Mit seinen launigen, leicht melancholischen Erinnerungen an turbulente Liebestage in jungen Jahren holte Billo Heinzpeter Studer den geteilten dritten Platz bei unserem Schreibwettbewerb "Liebe vor dem Alpenglühn". Wir gratulieren.
Und draussen schifft es
Vier Wörter in meinem Aufsatz, die mich beinah die Matura gekostet hätten. Ausgerechnet mich, der nur dank Dauerbestnoten in Deutsch und Fürsprache zweier Lehrer als einseitig Begabter nicht längst vom Gymnasium geflogen war. Unvorstellbar, dass meine Tochter einst Physik studieren und in Mathematik doktorieren würde; von mir kann sie das definitiv nicht haben…
Aber ich war endlich einmal nicht mehr brav damals, sondern zornig und unbot-mässig. Eigentlich bis heute. Wir waren die frechste, oder sagen wir: die eigen-sinnigste Klasse an der ganzen Kantonsschule Zürcher Oberland. Die Welt lag uns in den Sechzigerjahren zu Füssen. Wir gehörten zu den Besten, hatten Aus-sichten und nichts zu fürchten. Also.
Und draussen schifft es, und ich seh beim Nachdenken darüber, was ich im Auf-satz schreiben soll, nicht mal die Berge, die sonst mein Auge beim Blick aus dem Klassenzimmer erfreuten, wenn das Fach eine Zumutung war. Doch in meinem Kopf waren Berge im prallen Licht der Sommersonne und ein paar junge Frauen, die ich dort Hals über Kopf hatte zurücklassen müssen, nachdem man mich aus freiwilliger Fronarbeit gerissen hatte.
Natürlich war ich selber schuld, zusammen mit den zehn andern in meiner Klas-se. Dass wir im Jahr, in welchem wir uns auf die Matura vorbereiten sollten, wie alle andern zum Sporttag aufgeboten wurden, empfanden wir als Zumutung. Die spätere Soziologieprofessorin fand dezidiert, wir müssten auch mal einen Tag lang ausspannen dürfen von der Plackerei in der Schule, und das fanden wir alle auch. Aus einer kollektiven Laune heraus beschlossen wir, den Sporttag auf ele-gante Weise zu schwänzen: Wir füllten die Standblätter selber gemäss den indivi-duell zu erwartenden Resultaten aus, verzogen uns in unser Stammlokal zu Bier, Kartenspiel und Kegeln, brachten die Blätter gegen Ende der Veranstaltung zum Sammelpunkt und hatten es insgesamt unglaublich streng mit unseren Prüfungs-vorbereitungen.
Die Insubordination wäre niemandem aufgefallen, wenn wir nicht Opfer eines internen Kommunikationsfehlers geworden wären. Die Sportlichste der Klasse hatten wir zur Siegerin des Sporttags gemacht, was niemanden verwundert hätte, wenn sie sich nicht aus gesundheitlichen Gründen vom Sporttag hätte dispensieren lassen. Wir aber dachten, sie liege mir ihrem Freund im Bett, weil ihr das nicht wichtiger sei als mit uns kegeln zu gehen.
Es setzte ein grosses Donnerwetter. Jeder und jede erhielt eine dramatische Einzelbehandlung im Zimmer des Rektors: Standblattfälschung, Urkundenfäl-schung, kriminelle Tat. Immaturi, mit einem Wort. Die furiose Schulleitung be-schloss, uns alle für eine Weile von der Schule auszuschliessen; Matura ein Jahr später. Dem folgte ein grosses Donnerwetter zuhause.
Mein Vater hatte einen ausgeprägten protestantischen Sinn für Gerechtigkeit. Ich hatte einen Blödsinn mitgemacht, jetzt war es an mir, der Gesellschaft, die mir den Besuch einer Eliteschule bisher ermöglicht hatte, reuig etwas zurückzugeben. Er fand eine Einsatzgelegenheit für sein Früchtchen unter der Leitung eines ge-strengen Pfarrers, der mit jungen Leuten zusammen ein Haus auf den Glarner Alpen renovierte. Der Pfarrer inspizierte mich, fand mich brauchbar und hiess mich tags darauf fertig ausgerüstet bereit stehen.
Mir war’s mehr als recht. Nur weg von den besorgten Blicken meiner Mutter und dem nächsten drohenden väterlichen Donnerwetter. Schuldig fühlen konnte ich mich ohne Hilfe besser, und zudem schien mir, ohne Druck von aussen könnte ich die Schwere der Schuld besser einschätzen und entsprechend sühnen. Krimi-nell? Das schien mir geradezu grotesk überzeichnet.
Das Lager von zwei Dutzend Menschen beiderlei Geschlechts im Alter von nicht ganz zwanzig Jahren wohnte im Haus, dessen Renovation schon fortgeschritten schien. Als Sündiger meldete ich mich zu den härtesten Arbeiten; so spitzte ich einen Tag lang mit Hammer und Meissel Löcher in frisch gemauerte Wände, als Durchgang für Leitungen, die auszusparen jemand wohl vergessen hatte. Egal, ich tat, was ich konnte mit meinem jugendlichen Kräften, und schien damit aufzufallen.
Bei einer der Lagebesprechungen abends fragte der Pfarrer, wer morgen ins Dorf gehen möge, um von dort eine grosse Motorsäge und einen kleinen Kanister Sprit zu holen. Klar, mach ich. Aber das genügte dem Herrn nicht, denn es galt auch noch ein paar Einkäufe zu machen: Wer begleitet ihn? Als hätte sie darauf gewar-tet, meldete sich eine gross gewachsene mit langen dunkelblonden Locken, die Heidi (ich hoffe, mich nach fünfzig Jahren nicht zu irren). Wenn schon Begleitung, hätt ich mir eine andere noch lieber gewünscht, eine der beiden Zwillinge, die ich nicht auseinanderzuhalten vermochte, weil sie beide wie Schneewittchen aussa-hen und mir gleichermassen gefielen. Nun gut.
Wir wanderten anderntags früh ins Tal, erzählten uns dies und jenes, um allzu langem peinlichem Schweigen zuvorzukommen. Ein prächtiger Sommertag, an-genehm im Schatten des lichten Waldes, durch den wir nun leichtfüssig bergab gingen; es war zu spüren, dass der Rückweg einem den Schweiss aus den Poren treiben würde, mit oder ohne Last.
Heidi packte den kleinen Kanister in ihren Rucksack und die paar Besorgungen mit dazu. Wir assen und tranken noch was in einer Dorfkneipe, und Heidi zwei-felte, dass ich die grosse Maschine alleine bis hinauf tragen können würde, sah aber ein, dass es zu zweit viel mühsamer wär. Ich schulterte die Säge und schritt entschlossen voran. Heidi nebenher. Hin und wieder fragte sie, ob es gehe; eher hätt ich mir die Zunge abgebissen, als zuzugeben, dass es Angenehmeres als diese Schlepperei gebe. Nur selten erlaubte ich mir einen Halt und legte mir die Säge danach auf die andere Schulter. Es ging, es war nicht so schlimm, und ich war stark und zäh damals, fast so zäh wie heut als alter Mann.
Wie wir so bergan gingen, in der Anstrengung nicht so munter miteinander re-dend wie beim Abstieg, ging mir allmählich auf, dass Heidi weniger aus Hilfsbe-reitschaft mitgekommen sei als um mit mir alleine zu sein. Ich spürte, dass sie etwas von mir wollen könnte; nur was? Hm. Eigentlich gefiel sie mir nicht schlecht, eine lebendige junge Frau, etwas schüchtern, etwas forsch, tüchtig Schritt haltend, angenehm sprechend. Dass sie anpacken konnte, hatte ich schon im Haus beobachtet. Und eigentlich sah sie gut aus. Nähme mich wunder, wie sie küsst.
Je näher wir der Talstation der Transportbahn kamen, die uns die Last für das letzte steile Stück abnehmen sollte, desto schweigsamer wurden wir; war’s die Anstrengung, war’s die Ungewissheit? Schliesslich warfen wir uns mit unserem Gepäck in die Wiese neben der Station und liessen die nachmittägliche Sonne auf uns brennen. Wir stellten fest, dass wir mindestens eine Stunde früher zurück waren, als der Pfarrer geschätzt hatte, und Heidi schlug vor: Rufen wir die Bahn noch nicht; sie müssen ja oben nicht wissen, dass wir schon hier sind.…
Mir war’s recht. Hier in der Sonne sitzen, aufatmen, zur Ruhe kommen, rauchen und unbelastet plaudern… Doch ich ahnte, dass Heidi mehr erwartete, und je stärker ich es spürte, desto stärker meldete sich der Drang zu scheissen. Ich hatte im Dorf vergessen, aufs Klo zu gehen, hatte wie üblich viel gegessen, und jetzt, der Last ledig, erinnerte sich mein Leib an sein Gedärm. Hm, kein Baum weit und breit, nur niedere Felsbrocken, und auch kein Bach zum Händewaschen hinterher. Es kam mir schrecklich unpassend vor, zu sagen: Ich muss mal scheissen, und hast Du mir vielleicht ein Papiertaschentuch? Es würde alle zarten Regungen ersticken. Also blieb ich sitzen, hoffte, der Drang werde vorübergehn, und plauderte drauflos, als könnt ich meine unpassende Disposition damit überspielen.
Oh ja, ich hätte sie in meine Armen nehmen wollen, ihr Haar streicheln und ihren Mund und ihre Augen küssen, ihre Pfirsiche pflücken und wer weiss. Doch je stär-ker ich mir das vorstellte, desto drängender drückte der Darm. Zum Verzweifeln. Für sie muss es sich angefühlt haben, als wär ich an ihr überhaupt nicht inter-essiert, oder noch schlimmer, als wär ich ein Langweiler. Schliesslich stand sie auf: Komm, es wird spät, rufen wir die Bahn. Ich sprang auf und spürte mich sogleich erlöst vom körperlich schmerzenden Zwiespalt zwischen heimlichem Begehren und unausweichbaren Bedürfnis, während ich das Material in die Bahre lud und mit einem Stock ein paarmal hart gegen das Tragseil schlug. Nicht lange danach spannte sich das Zugseil, dann ruckelte die Ware himmelan.
Das Urteil war verkündet. In dreissig, spätestens vierzig Minuten würden wir oben erwartet. Wenn wir sehr schnell gingen, würden uns höchstens zwanzig Minuten bleiben, in denen wir unterwegs etwas anderes tun könnten als bergan zu gehen, und nur wenige Stellen, an denen man uns von oben nicht beobachten könnte. Ich ging schnell, Heidi vermochte kaum Schritt zu halten; sie konnte ja nicht ahnen, weshalb ich mich beeilte, so sehr, dass kaum ein Wort noch möglich war. Fieberhaft überlegte ich unterwegs, wie ich ihr verständlich machen könnte, was in mir vorging, und wie wir es anstellen könnten, nochmals eine Gelegenheit wie heute zu bekommen.
Oben angekommen, war der Scheissdrang wie weggeblasen. Heidi verzog sich zu ihren Kolleginnen und gab mit keine zweite Chance. Ich brauchte nicht lang, um es zu merken. Dass ich fast wie ein Held empfangen wurde, war mir kein Trost dafür, und noch weniger, dass einigen anzusehen war, was sie über Heidi und mich dachten. Wenn die wüssten, was den Held geplagt hat…
Die Nacht versprach warm zu werden. Nach dem Essen draussen unter dem grossen Baldachin aus Holz bei der Feuerstelle sassen wir alle beisammen und sangen und schwatzten. Nach und nach verzog sich eine nach dem andern ins Bett, bis ich allein mit meiner Gitarre beim Feuer sass. Das war mir gerade recht. Ich klimperte und sang leise meine Lieder vor mich hin, so leis, dass mir niemand würde vorwerfen können, meinetwegen erwacht zu sein, aber deutlich genug, dass es eine hören würde, wenn sie nur möchte. Ja, ich sang sie herbei, zweifelnd, hoffend, über mich selber lachend. Je länger ich so sass und spielte und sang, hin und wieder ein Scheit auf die Glut legend oder eine Zigarette rauchend, desto mehr verschwamm die Person, der mein canto galt. Bald stellte ich mir vor, die beiden Zwillinge würden aus dem Haus schleichen und sich links und rechts von mir setzen; also setzte ich mich so, dass auf beiden Seiten Platz genug für sie bliebe. Dann wieder wähnte ich Heidis Haar unter der Haustür und spielte ein paar Takte lauter, damit sie mich wahrnähme.
Als die Ersten am Morgen zur Feuerstelle kamen, um das Frühstück zuzubereiten, war ich noch wach, und ich hab den ganzen Tag danach hart gearbeitet. Damals hab ich gelernt, mir eine Nacht um die Ohren zu schlagen und keine Müdigkeit zu zeigen bis zur nächsten Nacht. Immerhin was.
Wenige Tage später hockte ich zur Mittagszeit neben der Bergstation und wartete auf einen Transport. Anstatt der Kollegen, die ich unten erwartete, wurde ich einer Frau und eines Mannes gewahr, die zielstrebig zur Alp hochstiegen. Auch auf die grosse Distanz erkannte ich sofort, um wen es sich handle: meine Mutter in Begleitung eines Mitarbeiters meines Vaters. Dass sie extra von Wallisellen hierher gefahren waren, konnte nur eine dramatische Wende ankünden; bloss was? Ich holte eine Ablöse für mich und sprang den beiden entgegen. Als ich sie erreichte, sah ich aus Mutters Gesicht, dass nichts Schlimmes geschehen sei; ihre Züge verrieten sogar eine gewisse Genugtuung und Heiterkeit.
Die versammelten Eltern von uns Tunichtguten hatten sich den rektorialen Beschluss nicht bieten lassen, nach welchem wir ihnen ein Jahr länger auf der Tasche liegen würden. Da wären ja vor allem sie bestraft statt ihrer Brut; so nicht! Sie waren mit ihrem geharnischten Rekurs erfolgreich; bis heute denke ich, mein Vater sei massgeblich daran beteiligt gewesen.
Kurz, die Erziehungsdirektion wies das Rektorat an, die paar Prüfungen, die wir bereits verpasst hatten, zu Beginn der Sommerferien neu anzusetzen. Damit hatten sich einige Lehrer, die uns eins hatten auswischen wollen, selber ins Knie geschossen: sie mussten unseretwegen ihre Ferien später antreten. Nur für unsere Deutschlehrerin tat mir das leid, die einzige, die zu uns hielt und uns keine Moral predigte.
Mir blieb also nichts anderes übrig, als sofort meine Sachen zu packen, mich rasch von allen zu verabschieden und mit nachhause zu fahren. Zwei Tage später begannen die Prüfungen. Ich erinnere mich einzig an den Deutschaufsatz. Nicht an dessen Inhalt, der ist mir entfallen; aber an die Stimmung, in der ich schrieb und die dem Leser wohl deutlich geworden sein muss, erinnere ich mich gut. Ich wär lieber auf der Alp geblieben, in der Sonne, bei der alles in allem sinnvolleren Arbeit, wie mir schien, und in der Nähe der drei Frauen, die mich angezogen hatten. Der Aufsatz muss sich gelesen haben wie ein Aufbäumen eines jungen Menschen gegen die Vereinnahmung durch das Erwachsensein.
Der Prüfungsexperte befand, ein Satz wie «Und draussen schifft es» sei weder richtiges Deutsch noch gehöre er in einen Schüleraufsatz, und er bestand auf einer sehr ungenügenden Note. Das erfuhr ich erst Wochen später, als unsere Deutschlehrerin uns in einem zweiwöchigen Arbeitsklassenlager in den Bergen besuchte, das wir uns als «Strafe» anstelle der uns verwehrten Maturareise auf-erlegt hatten; tagsüber halfen wir dem lokalen Förster beim Anlegen von Ter-rässchen an Steilhängen, und nachts war der Bär los. Zweimal kam unsere Leh-rerin vorbei, und beim zweitenmal hat sie’s mir erzählt. Wie sie es geschafft hat, dass ich dennoch eine sehr gute Note in Deutsch erhielt, hat sie mir leider nicht verraten, und nun ist sie tot und ich kann sie nicht mehr fragen, geschweige denn ihr danken.
Treu besorgt um meine zittrigen Chancen bei den Prüfungen hatten meine Eltern frühzeitig dafür gesorgt, dass ich in den Sommerferien einen mehrwöchigen Französischkurs in Lausanne besuchen und bei einer Familie wohnen könne. Tatsächlich spielte eine halbwegs passable Note in diesem Fach das Zünglein an der Waage. Nachdem es ein soigniert reaktionärer Kleinbürger im Dreiteiler und mit viel zu gross geknüpfter Krawatte in sechs Jahren geschafft hatte, mir meine Liebe für Sprachen mit Bezug aufs Französische gründlich auszutreiben, war der Aufenthalt in Lausanne wohl die Rettung. Ich kehrte von dort zurück mit einem amerikanischen Akzent, der meines Englischlehrers Augenbrauen in Bewegung setzte. Etwa hundert Mittelschüler meines Alters aus Michigan hatten gleichzeitig die Schule in Lausanne besucht.
Während ich vormittags vier Stunden in der obersten Klasse Französisch lernte, bei mitreissenden Lehrern zum erstenmal richtig und mit Spass lernte, ver-brachte ich die Nachmittage, die Abende und die Nächte unter jungen Amis. Zwei junge Frauen wohnten bei der selben Familie wie ich; die eine von ihnen hakte an den Wochenenden die Places to see when in Europe ab, die ihr ihre Eltern aufgetragen hatten; Lucy hingegen verbrachte die freie Zeit oft mit mir und andern am Strand, tags unter der Sonne, abends an Feuerchen aus geklauten Gartenzäunen, mit marsh mallows und selbstgemachtem Bob Dylan und mit dunklem Bier zu zweit bis spät in die Nacht in dunklen Ecken; und manchmal besuchte sie mich auch in meinem Dachzimmer. Im Küssen und im Greifen nach Pfirsichen und andern Früchten entfalteten wir bald eine innige Fertigkeit, immer brav innerhalb des petting codex aus dem Land der prohibition.
Nach vier Wochen war ich zurück. Lausanne fehlte mir, diese schöne kleine Stadt, die sich vom See hinauf bis fast in die Berge erstreckt. Die Vertrautheit mit Lucy fehlte nicht minder, auch wenn ich mir nie Illusionen gemacht hatte, es würde einst mehr mit uns werden. Ich blieb hier, bei meiner grossen Liebe und am Ort, wo ich studieren würde; sie reiste zurück; wir würden einander schreiben und uns Dinge auf Kassetten erzählen. Aber ich wollte sie wenigs-tens noch einmal sehen, bevor sie zurück nach Seattle flöge. Sie war noch bis zum Herbst in Lausanne geblieben, bei Verwandten ihres Vaters, der von hier in die USA ausgewandert war. Ich erinnerte mich, dass sie einmal erwähnt hatte, an welchem Tag sie mit dem Zug nach Zürich und dann zum Flughafen fahren werde.
Ich war mir nicht ganz sicher, meinte aber, es sei der und der Dienstag. Ich wollte sie überraschen, ich wollte vor allem die Überraschung in ihren Augen sehen und ihr helles Auflachen hören, wenn sie mich erblicke. Ich schwänzte an diesem Tag die Vorlesungen und bezog Posten im Zürcher Hauptbahnhof ab der Zeit, zu welcher der erste Zug aus Lausanne ankäme. Als er eintraf, stellte ich mich an den Kopf des Perrons und musterte jede entgegenkommende Person, ständig in Sorge, nicht alle zu sehen. Keine Lucy. Also rasch rüber zum Perron, von welchem der nächste Zug zum Flughafen fährt. Wieder nichts. Okay, kommt sie also einen Zug später. Und noch einen später. Stunde und Stunde. Und so verging die Zeit in wachsender Fixierung und Aufregung; erfolglos. Bis heute weiss ich nicht, ob sie wirklich an jenem Tag nach Zürich reiste.
Während ich so wartete, kam mir Heidi durch die Halle entgegen. Sie hat sich wohl gefreut, mich zu sehen, denk ich heute. Sie fragte, ob ich Zeit für einen Kaffee hätte. Leider nein, ich warte auf jemand. Da ging sie rasch weiter, mit einem enttäuschten Tschüs. Mehr hätt ich auch nicht verdient.
Lucy hat mich elf Jahre später in Zürich besucht, mit Mann und Kleinkind, ihrem dritten. Sie blieben über Nacht in meiner alten Wohnung in Wollishofen, in der ich damals alleine lebte. Als ich mich anderntags am Zug von ihnen verabschiedete, erhaschte sie einen Moment, in dem ihr Mann nicht hinschaute, und fiel mir um den Hals, als müsst ich sie retten. Sie hätte mehr verdient, denk ich manchmal, und manch andere nicht minder. Aber ich hab lange gebraucht, das alles zu verstehen, und nun bin ich zu alt, um nochmals ganz neu anzufangen.