Liebe

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Liebe will erdauert sein: Mit "Bestimmt!" holt sich Tony Ettlin den geteilten dritten Platz bei unserem Schreibwettbewerb "Liebe vor dem Alpenglühn". Wir gratulieren.

Bestimmt!

 

Die Füsse nehmen keinen Schritt mehr. Es hält an, hält auf dem sonnendurchfluteten Wiesenweg an, welcher rundherum mit Bäumen durchsetzt ist. Eine grüne Alpeninsel herausgeschlagen von der Alpgenossenschaft aus dem Mischwald, gerungen, gekämpft, entwurzelt am Nagelfluhberg. Die unterste Alp, mit der Wiese welche im Frühjahr beim Alpgang als erstes genutzt und im Herbst als letztes Berggras, vor dem hereinbrechenden, ruhenden weissen Schnee nochmals abgetragen wird.
Junge Bäume, wenige Jahrringe, Wärme aufnehmend. Was sind es für Bäume die der Förster zusammen mit den Tagelöhnern der Alpgenossenschaft gepflanzt hat, oder haben die Bäume ihren eigenen Weg, den Sonnenweg genommen? Sich hingesetzt, am Ort wo sie bleiben wollten, ein Leben lang, nicht mehr versetzt nicht mehr fliegend als Polle den Weg gesucht sondern bleibend, stehend?
Da!
Mein Blick blinzelt Richtung Morgensonne, blinzelt dem Baumstamm hinauf, der Verästelung nachschauend, der hängenden Blätter mit durchmischten braunen grossen Punkten. Ich weiss nicht, wie der Baum heisst, war in der Biologie nicht aufmerksam genug, hab von den Reisen und nicht von den Bäumen geträumt. Die ruhenden braunen Flecken betrachte ich. Maikäfer, Maikäfer im Dutzend hängen unter den Blättern, schlafend von der grossen Nachtanstrengung. Bis auf zwei, die ihren schweren Körper im Langsamflug bewegen. Die müden Flügelschläge zeugen vermutlich von einer glücklichen Nacht. Ich meine, ein lächeln zu sehen. Alle drei Jahre und wenn ich zurückrechne, muss es mindestens 7x 3 Jahre zurück sein, als die Maikäfer das Leben der kommenden, wärmenden Jahreszeit ankündigten und mich in die Freude hineintauchen liessen. Hinein in die pubertierenden Lebenserlebnisse, abends einherfliegend meiner Herz-Schmetterlinge im Parallelflug mit den Maikäfern.

Die Gedanken des 7x3 Jahre-Maikäfer-Zyklus lassen den heutigen Tag länger werden, die Gedankenwelt erhebt sich zum Spiegel. Lebenswerte Lebensfurchen sehend lassen mich vorbereiten auf den Abend. Die Körpervergänglichkeit nimmt zu, aber nicht die Lebensliebe. Ich verlasse das Haus im Quartier, sehe-höre-rieche den übergang des längsten Tages in die Nacht zur Tagverkürzung. Vorbei an sprudelnden Prosecco-Gläsern, an Holzofengrill mit darauf brutzelnden Bratwürsten von der Metzgerei, welche in der dritten Generation, immer auf den längsten Tag, die nach einem Geheimrezept hergestellten Längste-Tag-Bratwürste verkauft.
Mein früherer Wiesenweg ist heute bei den ersten Kilometern bis zum Beginn des Nagelfluhberges ein geteerter Weg, aber immer noch der gleiche, welcher mich auf die wärmende Jahreszeit hinaustreibt. Hinaus in die Geschichte hinein, hinaus in die unübersehbare Lebensgeschichte hinein, welches mich immer wieder jährlich und trotz sehbarer eigener Jahrringe aufblinzeln lässt. Trotz aller dörflicher Konventionen halten wir uns daran, der 21. Juni ist unser Vorabend-Tag, der auch nach Jahrzehnten genau den gleichen Ablauf kennt. Die Sonne zeigt ihr von Westen her strahlendes Gesicht. Es war in den vergangenen 10 Jahren mindestens 7mal sonnig. Stärkende Grade auf dem Thermometer.
‚Wie war Dein Jahr Anna?’. Mit diesem Satz eröffnete ich jedes Jahr den Treff am geteerten Weg an der Weggabelung, welcher dann in einen gemeinsamen Bergwaldweg zum Wiesenweg in unsere Wieseninsel weiterführte.
‚Mein Jahr war nicht sonderlich’, antwortete Anna. Auch diese Antwort war, wie jedes Jahr dieselbe Antwort und wir wussten genau, dass dies mehr bedeutete als nur diese belanglosen fünf Worte.
Wie immer war es meine Aufgabe, die Wolldecke mitzunehmen, währenddem Anna für den Wein, den Lachs, das Brot, die Silberzwiebeln, und Cornichons mit Honig zuständig war. Der Wein, ein Tessiner Merlot immer drei Jahre älter als unser Jahrestreff und der weltbeste Alaska-Lachs (es musste der Balik aus dem schweizerischen Toggenburger sein) trugen seit Jahrzehnten das gleiche Preisetikett. Seit drei Jahren durfte auch der Beluga-Kaviar nicht fehlen. Der Picknickkorb mit 2 Keramik Teller (Sujet Zierblumen), 2 Weingläser, 2 Bestecke, 1 Korkenzieher, 1 Kühltasche, Gewicht: ca. 2 kg hergetragen von Anna war ein und derselbe. Auch in die Jahre gekommen.
Unser Weg führte uns im halbstündigen Spaziergang zu unserem Wiesenplatz. Wir wussten aus Erfahrung, dass der Bauer als Pächter der Alpgenossenschaft den letzten Schnitt des Grases erst im Juli durchführt und hofften, dass er möglichst lange der Meisterlandwirt bleiben wird.
Das Gras stand hoch, unser quadratisches Wolldeckenviereck war geschützt. Dieses Jahr musste ich erstmals eine neue Decke besorgen, nachdem im vergangenen Jahr die Abschiedsworte von Anna klar und deutlich waren: ‚Gell, in einem Jahr, wiederum am selben Ort, aber nimm bitte eine neue Decke mit, eine Decke welche das spüren unseres 21. Juni erleben lässt’. Diese Worte vom vergangenen Jahr konnte ich nicht deuten. Beim Kauf, natürlich 21 Tage vor unserem Treffen waren die Worte ‚spüren‘, ‚erleben‘ sehr nahe bei mir. Wir hatten unsere eigenen Wege, 364 Tage unsere Daseinsberechtigung an einem anderen Ort. Jeder hatte seine Wahrheit erlebt und gelebt und wenn man die Jahrringe näher betrachtete, war das eine Jahr stärker und das Andere schwächer mit Wurzelansätzen durchzogen.
‚Jetzt rechts, noch 200 Meter ins duftende Gras, ich hoffe, du weißt noch wo genau unser Jahresplatz ist’, sagte Anna. Wir hatten aus Spass auf dieser Wiese unseren Platz mit fünf Päckchen Wildwiesen-Samen markiert. Zu unserer Überraschung hatte der Meisterlandwirt  nichts dagegen, dass da etwas anderes als reines rauhes Futtergras seinen Weg aus der Erde suchte und fand. Es wurde immer eine wunderbare Wildwiese rund um unser Plätzchen. Der Wildwiesenhag war ziemlich genau 50cm-breit und umfasste ein Quadrat von 2,5x2,5 Metern. Drinnen in diesem Viereck hatte die Wolldecke platz. Ich entfaltete diese und fragte Anna: ‚Und, zufrieden mit meiner neuen Decke?, hab diese sehr überlegt gekauft, nicht einfach eine Aktion sondern auf der Rückseite beschichtet, dass keine Feuchtigkeit durchdringen kann’. ‚Ich kenne ja Deine Farben und nehme nicht an, dass da eine Änderung geschah. Farbenblind bist du nicht, das freut mich’, lächelte Sie mir entgegen. Auf allen Vieren, immer beginnend unten links, legte ich die Decke mit gekonnter Routine auf die Grashalme.
Bevor dann der Merlot seine Schuldigkeit verlor, legten wir uns hin. Anna links und ich rechts. Eine kleine Schafherde durchzog langsam im tiefblauen Himmel unsere Pupillen.

Anfänglich haben wir um den Beginn der ersten Worte gewürfelt. Wer eine sechs würfelte durfte bestimmen ob er beginnen möchte oder dem Gegenüber das Wort geben wollte. Jahrelang durfte ich bestimmen, bis es Anna zu bunt wurde. Spielregeln ändern war angesagt, dies seit rund zehn Jahren. Wir fanden, dass der Beginn des Jahresgespräch immer vom Anderen begonnen werde und dafür der Eine das Schlusswort haben durfte.
‚Mein lieber Urs’, begann Anna, ‚mein lieber Urs, dieses Jahr war für mich entscheidend, wohin mein Weg führen wird. Ich bekam das Angebot meines Arbeitgebers, an Seminarien teilzunehmen, welche viele Wochenendtage füllen werden. Du weißt ja, dass vieles sich bewegt, dass ich trotz meiner Jahrringe nach wie vor vieles erreichen will. Ich hab dies ganz unendlich lange geprüft, wollte dich um Rat fragen und…‘, der Atem stockte, die Stimme wurde brüchig. Nach einer unendlich langen Pause die Worte von Anna ‚…habs dann doch nicht getan’.
‚Warum hast Du mich nicht gefragt’, antwortete ich ‚vielleicht hätte ich Dir den einen oder anderen Tipp geben können’. Spürbar und vermutlich sichtbar kam mein Puls in eine höhere Etage. Es war wie in meiner Kindheit, als ich in der Schule immer gehänselt wurde, weil ich bei Verlegenheit und Unsicherheiten meine Wangen rot wurden. Blutrot.
Anna nahm ihre Hand an’s Herz. Wiederum keine Worte. Stillatmend. Aussergewöhnlich, da der Redeschwall von Anna eigentlich von Jahr zu Jahr grösser wurde. Mein Gehör nahm die arbeitenden Bienen wahr, die sich in unserem Wildgras vegetarisch ernährten.
Nach langem Schweigen sagte sie: ‚Du bist an 364 Tagen so weit weg und doch seit Jahren immer bei mir hier. Ich wollte aber trotzdem für mich alleine entscheiden. Keine Belastungen, wem auch immer, überlassen’.
Es wurde in mir ruhig, ich konnte nicht sofort antworten, weil ich immer noch nicht deuten konnte, was die Antwort soll. Ich betrachtete Anna, ihre schönen Augen, ihren von Jahr zu Jahr attraktiveren Körper, ihre Gesichtszüge, jetzt mit ganz kurz geschnittenen schwarzen Haaren und sah in ihr die erfüllende Reife.
‚Schneide den Lachs auf, wir beide wissen ja, dass uns der füllende Magen, durchtränkt mit dem feinen Merlot, die Stimme lockert’ entgegnete ich ihr.
Mit ihren zarten Händen und dem unpassenden grossen Messer schnitt sie den Lachs in Tranchen. Unser Teller, den ich vor Jahren, als Jahresaufgabe von Anna, auf dem Antiquitätenmarkt gekauft hatte, wurde vom Lachs belegt, sodass die Tellerzierblumen kaum mehr erkennbar waren. Das beträufeln mit Zitronensaft war so eine Wiederholungsgeschichte, ein Wissen, dass es genau 21 Tropfen sein mussten, damit wir dies geniessen konnten. Dasselbe galt für die zwei Weingläser in besonders schönen Formen, schönen Verzierungen und Goldrand, ebenfalls eine Jahresaufgabe, welche sich in tiefes Merlot-Weinrot legten.
‚Auf uns’ sagte ich, ‚auf uns’ erwiderte Anna mit einem Augen-Blick der mich völlig verwirrte.
Anna und ich waren uns seit der Jugend entschwunden. Wir verliessen unsere Freundschaft ohne Fragen, ohne rastlose Wünsche. Wir verliessen unsere Berührungen, unsere Augen unser Sein. Kein Wort verloren wir über die Zukunft. Das jetzt hatte gesprochen und es blieb unausgesprochen, dass das Herz am damaligen 21. Juni stehen blieb.
‚Sprich Anna’ versuchte ich das Gespräch wieder aufzunehmen.
‚Deine Stimme ist unruhig Urs. Es geht dir vermutlich so wie mir. Ich kann die 364 Tage nicht mehr stehen lassen ich suche Dich an 364 Tagen und am 365sten, wenn wir zusammen sind, verliere ich mich wieder in unserer Jugendverlassenheit. Kannst Du das verstehen?’. Während ihrer Worte streichelte ich über unseren Wildgraszaun. Ich spürte die Lebenslinienberührungen. Wollte ich diese überhaupt spüren? War es ein Verlegenheitsstreicheln, ein Ersatzstreicheln, ein Suchen nach mehr Einheiten die ich ebenfalls vermisste, wohin und woher auch immer.
‚Nein, meine Stimme ist doch nicht unruhig, es sind höchstens meine nervösen Stimmbänder, weil, weil ich’. Ich kam mir vor wie in den jungen Jahren als ich bei unserem Dorfbäcker ein Gipfeli unbezahlt mitlaufen liess. Natürlich beobachtet von der Bäckersfrau mit der nachfolgenden Strafe, einen Nachmittag lang den Mehlstaub in der Backstube aufzuwischen. Erwischt!
‚Sprich bitte deine Worte weiter’ antwortete Anna.
‚Meine Gedanken gingen in dem vergangenen Jahr in die gleiche Richtung. Nur, ich bleibe hier, wo ich bin, ich möchte und will nicht weg. Bin ich Alt, bin ich Eigen?, die Frage habe ich mir viele Abende gestellt, viel überlegt, soll ich Dir telefonieren, soll ich dich suchen soll soll?, und ich habs nicht getan, bewusst nicht, weil ich mich bleiben will, weil ich die vergangenen Jahre gelebt habe, wie ich jetzt lebe’. Mein Kopf sagte ja zu diesen Worten mein Herz erfühlte die Katastrophe in jedem ausgesprochenen Buchstaben zu Worte, zu Sätze.
Die Antwort machte Anna im Gesicht bleich, während meiner Worte berührten sich unsere Hände, langsam und verlegen.
Jahrzehnteverlegenheit!
‚Ich liebe dich, verstehst Du das?, ich liebe dich und ich buchstabiere Dir die drei Worte. ICH LIEBE DICH’ antwortete Anna. Diese Stimme diese Intensität, trotz all unserer Jahrestreffen auf dieser untersten Alp, hörte ich das erstemal. Wirklich das erstemal oder wollte ich diesen Klang gar nie wahrnehmen? Die Fragen überschlugen sich in meinem Innersten, in den Blutbahnen von oben bis unten und von unten bis oben.  
Mir stockte der Atem und nochmals und nochmals. Der nächste Atemzug war Positiv. Ich hatte das Gefühl, dass wiederum die 7x3-Jahre Schmetterlinge sich entpuppen.
‚Anna, ANNA’ schrie ich sie an, ‚Anna, was soll das, werde wach, nimm eine Nadel und erlöse deine Traumluftblase vom Nirgends.’ Immer noch wollte ich die Kopfgedanken stehen lassen.
‚Nein, ich will mich nicht lösen mein lieber Urs, niemals mehr lasse ich mir den jetzigen Moment nehmen, die Maikäfer haben mir damals die Illusion der ewigen Liebe genommen. Wortlos, traumlos, ich lass mir das nicht mehr nehmen’ antwortete Anna in einem Ansatz von verzweifelten Herzworten.
‚Ja ich will’ so überraschend meine Antwort kam, so unendlich ewig konnte ich meine Worte nicht mehr zurückhalten. Endlich überholte das Herz meine gespielte und im Beruf tagtäglich eingesetzte Sachlichkeit.
In der Zwischenzeit war der längste Tag zur noch längeren Einnachtung geworden. Der Wein, der Lachs, die wärmende Decke hatte das Seine dazu getan. Die Worte verloren sich in diesen Momente weil die Worte das Augenstreicheln, das beidseitige Lebens-Einatmen der AnnaUrs-Liebe unterbrochen hätte. Geschützt von den Bäumen, rund um unsere Wieseninsel auf der untersten Alp, liess uns stundenlang umarmen, streicheln, erlieben.
Die jahrzehntelang einzeln erlebte Eintagsmonotonie ging über in einen Jahreseinklang, die vier Jahreszeiten duften immer nach unserem Wildgras, die längste-Tag-Bratwurst bruzelt bei uns, liebend, erlebend, 364 Tage, weil am 365sten, ja eben Merlot und Lachs…..
Bestimmt?
Bestimmt!

 

Platzhalter-innen und * für Transgender

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