Der Historiker Jon Mathieu legt mit «Die Alpen. Raum. Kultur. Geschichte» eine überzeugende Gesamtdarstellung der Geschichte des Alpenraums von grauer Vorzeit bis in die Moderne vor. Die Akzente setzt er mit teils überraschenden Einsichten aus einer Betrachtungsweise, die der «langen Dauer» folgt.
Am Anfang steht der Ärger über eine Druckqualität, die den Landschafts-Fotos von Michael Pieper nicht annähernd gerecht wird. Pieper zeigt auf den ersten Seiten des Alpenbuches von Jon Mathieu auf seiner Bildstrecke die Alpen als Ort, an dem der Mensch nur Spuren hinterlässt, den er aber nicht zu prägen weiss wie die meisten anderen Lebensräume, die er besiedelt. Im Kontrast dazu stehen die Bildtafeln in der Buchmitte mit alpinen Motiven aus der Malerei vom Spätmittelalter bis heute: Maximilian I. im Jahr 1504 als mächtigen Herrscher über den Achensee und seine Berge, eine alpine Kulturlandschaft im Engadin aus dem Jahr 1655, in der der Wald vom Menschen weitgehend verdrängt worden ist, die Schöllenen-Schlucht als Kulisse für den «angenehmen Schrecken», den der Jahrhundertmaler William Turner 1802 verbreiten wollte und schliesslich die verehrenden, verklärenden und in ihrer städtischen Weltfremdheit verstörenden Bilder aus dem weiteren 19. Jahrhundert, in der die Berge zunehmend Schönheit und Schrecken zugleich verbreiten, bis hin zu Ernst Ludwig Kirchner, der in seinem selbst gewählten Davoser Exil in falschen Farben einen neuen Realismus ins Spiel brachte und damit die innere und äussere Welt zu versöhnen suchte. Die Alpen waren im Laufe der Jahrtausende im Wortsinn alles - und nichts.
Aussergewöhnliche Berge?
Am Anfang des Buches steht auch die Frage, was es mit dem Satz des berühmten Historikers Fernand Braudel auf sich hat, der in seinen monumentalen Geschichte des Mittelmeerraumes im 16. Jahrhundert von den Alpen als «ganz aussergewöhnliche Berge» spricht. Es ist ein schöner Faden, den Jon Mathieu damit spinnt, denn eigentlich hält wenig dieses Buch zusammen, das ja den Anspruch erhebt, die Alpen in ihrer ganzen historischen Dimension zu erfassen. Klugerweise unterlässt es der Autor, diese Geschichte im Sinne der Universalhistoriker zu erzählen, nicht nur, weil sie sich in vielen Aspekten nur in Bruchstücken erzählen liesse, sondern auch, um diesem monumentalen Vorhaben auch nur einigermassen gerecht zu werden. Und so gleichen die Kapitel, die sich Themen wie den Alpen in der europäischen Geschichte, der Geschichtsschreibung selbst, dem Leben und Überleben oder auch der politischen Geschichte widmen, selbst Bruchstücken: ein gelungenes Bild, die im Kern für jede historische Arbeit zählt. Mathieu schreibt ungemein kenntnisreich und stets die grosse historische Linie zeichnend, die «longue durée», die auch Braudels historisches Verständnis auszeichnet. Mit diesem Blick werden die Alpen zu einer vom Menschen sehr unterschiedlich geprägten Landschaft, die man sich noch bis ins Hochmittelalter als Mosaik von naturbelassenden und bewirtschafteten Flächen vorstellen darf, spärlich besiedelt und, nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches, primär Grenzraum, der Italien, Frankreich und Deutschland voneinander schied. In der Aussenbetrachtung waren die Alpen schon immer ein Naturraum, von innen her vielmehr Kultur- und Lebensraum – besonders aussergewöhnlich war diese Entwicklung nicht, meint Mathieu. Im 11. Jahrhundert setzte, bedingt durch starkes Bevölkerungswachstum und klimatisch günstige Bedingungen, eine starke Intensivierung der Bewirtschaftung ein, die den Alpen ein neues Antlitz gab. Vorbei war die Zeit, als es geheissen hatte, die Berge zu loben, aber im Tal zu leben. Es galt mehr und mehr, jeden nutzbaren Flecken Landes auch zu bewirtschaften. Das steigerte wohl die Erträge, war aber, weil praktisch alles von Hand zu bewältigen war, auch extrem arbeitsaufwendig. Die Intensivierung hatte ihre natürlichen Grenzen. Während in den Ebenen und Flusstälern mehrere Ernten pro Jahr eingefahren werden konnten, reichte es in den Hochalpen kaum zu einem Grasschnitt. Die Alpen wurden so zur Kulturlandschaft, bis hinauf in die Regionen des ewigen Eises geprägt vom Menschen, der die Wälder rodete, Terrassen für den Ackerbau anlegte und trockene Weiden bewässerte – was an der Aussenwahrnehmung allerdings kaum etwas änderte. Migration, oft auch saisonhalber oder zu Kriegsdiensten, prägt die Alpen, die «Fabrik, die Menschen produziert» (Braudel) seit Jahrhunderten, und auch wenn es erst im 19. Jahrhundert zu grossen Auswanderungswellen kam, so prägte diese Migration auch die Menschen, die keineswegs als weltfremd oder hinterwälderisch, sondern vielmehr als weltoffen und lernbegierig gelten müssen. Die Einfaltspinsel oder Allroundgenies, zu denen sie, je nach Standpunkt, in manchen Beschreibungen gemacht wurden, zeugten und zeugen eher von Unkenntnis als Sachverstand, was nicht minder für die Verherrlichung einer alpinen Demokratie galt, die es in dieser idealisierten Form nie gab. So finden sich im Aostatal schon sehr früh Spezialisten am Bau von Hof und Stall, die ihre Dienste sehr mobil anboten. Um die grossen Bergwerke bildeten sich erste Zentren der Frühindustrialisierung, und die ersten Textilfabriken fanden gerade in den verarmten ländlichen Gebieten der Voralpen das billige Personal, nach dem sie dürsteten.
Die Peripherie in der Peripherie
Zum Durchgangsraum wurden die Alpen im Zuge von Industrialisierung und dem raschen Ausbau von Verkehrswegen. Das setzte einen Zentralisierungsprozess in Gang, der bis heute anhält, gerade auch in den Alpen selbst, wo sich gut erschlossene Zentrumsregionen herausbilden, während, stärker auf der Alpensüdseite, es zur regelrechten Entvölkerung vieler Seitentäler kam. Der Tourismus hat diese Entwicklung gehemmt und gleichzeitig verstärkt. Viele selbstd zu Städten gewordene touristische Zentren von heute wären ohne die Gäste auf Zeit kaum mehr denkbar. Der Niedergang der Landwirtschaft liess sich auch durch die Mechanisierung nicht stoppen, ohne staatliche Fördermittel wäre er noch weit dramatischer gewesen. Mathieu spricht von einer «Polarisierung» der Landwirtschaft, deren Folgen noch kaum absehbar sind: Die Alpen sind nicht mehr Peripherie an sich, die Problematik hat sich in die Alpen selbst verlagert. Die beiden Weltkriege haben, menschlich und politisch, tiefe Wunden geschlagen, die bis heute nicht alle verheilt sind. Es entstanden mit Österreich und Slowenien zwei neue Staaten, und mit der Europäischen Union ein neues politisches Gebilde, dem mit Ausnahme der Schweiz und Liechtensteins alle Alpenstaaten angehören. Mit dieser Europäisierung ging eine Regionalisierung einher, es bildeten sich regionale Verbünde wie die Arge Alp oder die Arbeitsgemeinschaft Alpen-Adria, und schliesslich 1991 mit der Alpenkonvention das erste internationale Übereinkommen, das die Alpen als schutzbedürftige Region beschreibt, in der wirtschaftliche und ökologische Interessen in Einklang zu bringen seien. Das sind neue Töne, deren Klang sich in einem historischen Werk nur andeuten, sich mangels ausreichender zeitlicher Distanz aber kaum beschreiben lässt.
Aussergewöhnlich vom Umland geprägt
Braudels These von den «aussergewöhnlichen Bergen» relativiert Mathieu in seinem Fazit. Sie gelte wohl uneingeschränkt für die frühe Neuzeit, aber es stehe die Frage im Raum, ob die Ressourcen, kollektiven Aufgaben und die Leistungsfähigkeit der Bevölkerung tatsächlich so besonders waren. «Wäre es nicht plausibler, auch den Aspekt der Wahrnehmung zu berücksichtigen, als den bald einsetzenden ‘Alpenkult’ der europäischen Eliten?» fragt Mathieu. Dann habe die Aussergewöhnlichkeit des Alpenraums primär mit der Aussergewöhnlichkeit des Umlandes zu tun – und wäre mit diesem weit stärker verbunden als viele denken mögen. Die vielen Naturparks im Alpenraum lassen sich vor diesem Hintergrund nicht nur als Zeichen der Notwendigkeit eines Naturschutzes deuten, sondern als «moderne Wertschätzung», die andeute, «dass die Alpen im Vergleich zum flachen Land auch in Zukunft ein abwechslungsreicher, lebenswerter und faszinierender Raum sein werden». Das mag angesichts von hitzigen Debatten zur Wiederbesiedlung neu entstandener, naturnaher Lebensräume durch Raubtiere, in denen sich der Gegensatz von Stadt und Land besonders exemplarisch zeigt, etwas gar optimistisch sein. Anderseits hat Mathieu auf lange Sicht zweifellos recht. Ökologisierung, Regionalisierung und ein neues, europäisches Bewusstsein im Alpenraum schaffen einen neuen Rahmen für die Zukunft, einen Rahmen, den es nun auszugestalten gilt. Dieses überaus lesenswerte Buch sei allen zur Lektüre empfohlen, die gerne auch mal über den Tellerrand der unmittelbaren Gegenwart blicken, zurück, und, um manch überraschende Erkenntnis reicher, damit auch nach vorn.
Jon Mathieu. Die Alpen. Raum. Kultur. Geschichte. Reclam Verlag. Stuttgart. 2015. € 38.80, CHF 51