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Die 42 eidgenössischen Jagdbanngebiete, deren Ursprünge bis ins Jahr 1875 zurückreichen, sind die Erfolgsgeschichte eines langfristigen Naturschutzverständnisses. Zum Beispiel das Jagdbanngebiet Graue Hörner im Kanton St. Gallen: Hier gelang vor einem Jahrhundert die Wiederansiedlung des Steinbocks, und auch die seit 2010 ausgewilderten Bartgeier haben ein gutes Leben.

graue hoerner


Zwölf junge Bartgeier aus einem internationalen Zuchtprogramm sind in den Jahren 2010 bis 2014 im Jagdbanngebiet Graue Hörner im St. Galler Calfeisental ausgewildert worden. Die Aasfresser machten hier ihre ersten Flugversuche und gewöhnten sich rasch an das wilde Leben in Freiheit. Die einst als Lämmergeier oder gar Kinderräuber verunglimpften Bartgeier haben das Angebot der Wiederansiedlung so selbstverständlich angenommen wie vor gut einem Jahrhundert die in der Schweiz ebenso komplett ausgerotteten Steinböcke. Das Eidgenössische Jagdbanngebiet Graue Hörner war damals, 1911, nur noch von wenigen Gämsen besiedelt. Sie hatten dem extremen Jagddruck durch eine verarmte Bevölkerung in entlegenen Nischen widerstanden. Diese Abgeschiedenheit hatte die kantonalen St. Galler Behörden bewogen, das im Zuge des 1875 verabschiedeten Jagdgesetzes für jeden Gebirgskanton vorgeschriebene Jagdbanngebiet im Jahr 1901 aus den Churfirsten zu verlegen. Dort hatte es nicht gelingen wollen, das ausgerottete Schalenwild in einer Keimzelle der Natur wieder zu etablieren. Dennoch mussten drei Wildhüter die ausgewilderten Steinböcke im Jagdbanngebiet Graue Hörner bewachen – der Wert eines Tieres überstieg deren Jahresgehalt. Es gelang, und nach und nach kehrten aus dem benachbarten Österreich auch die Rothirsche zurück. Doch es sollte bis in die späten 1960er-Jahre dauern, bis sich dauerhaft selbst erhaltende Populationen entwickelt waren. Heute besiedeln im Sommer rund 250 Hirsche, 400 Gämsen und 250 Steinböcke das 55.5 km2 umfassende Jagdbanngebiet. Für das Wildschwein ist das Klima im Winter mit den enormen Schneemengen viel zu rauh, Rehe halten sich nur in sehr kleiner Zahl an den Talhängen auf. Das erste Schweizer Wolfsrudel seit Generationen, das sich in unmittelbarer Nähe am Calanda etabliert hat, kommt angesichts der sich nahe am Optimum befindenden Wildbestände in der Region nicht von ungefähr. Wolf und Wild haben sich rasch aneinander gewöhnt: Gämsen und Steinböcke bleiben stets in Nähe rettender Felswände, die Hirsche weichen in benachbarte Täler aus. „Zur Bedrohung für das Schalenwild wird der Wolf nicht werden“, sagt Wildhüter Rolf Wildhaber, seit 2005 im Amt. Die urtümliche Abgeschiedenheit der Grauen Hörner lässt ihn an die Wildnis der kanadischen Rocky Mountains denken. Tatsächlich ist das Banngebiet nur gerade an einer Stelle im Calfeisental durch eine – für den normalen Verkehr gesperrte – Alpstrasse erschlossen, wo die letzte Alpsennin im Tal einen viel gerühmten Käse produziert. Alle anderen Alpen werden nur noch mit Galtvieh, Mutterkühen und – in stark sinkender Zahl – Schafen bestossen. Nutzvieh und Schalenwild tun sich nicht weiter weh, es komme vor, dass Rinder und Hirsch praktisch Seite an Seite grasten und einander mit erstaunlicher Konsequenz ignorierten, sagt Wildhaber. Während der Wolf dem Rindvieh kaum gefährlich werden kann, sind die Schafe in Gefahr, zumal die seit Jahrtausenden domestizierten Tiere noch nicht einmal Reissaus nehmen, wenn ein Wolf in einer Herde auf Beutefang geht und, seinem Instinkt folgend, alles reisst, was ihm unter die Zähne kommt. Auch um die Grauen Hörner ist es zu Schafsrissen in unbewachten Herden gekommen. Für einige Alpsennen gab es angesichts ihrer für eine dauernde Behirtung zu kleinen Herden den Ausschlag, neue Wege zu gehen: mit grösseren, bewachten Herden oder der kompletten Aufgabe der Bestossung durch Schafe in den hohen Lagen ab 2200 Metern – was aus Sicht der Artenvielfalt wünschenswert ist.
Zu denken gibt das Verhalten mancher Tierfotografen, die etwa die eben ausgewilderten Bartgeier anfütterten, um ihnen näher zu kommen. Doch auch diese liessen sich disziplinieren, sagt Rolf Wildhaber, so, wie die allermeisten Wandererinnen und Wanderer, die das Wegegebot und das Pflückverbot respektieren, „solange sie länger als eine halbe Stunde unterwegs sind“. Dort trenne sich die Spreu – unwissende Spaziergänger – vom Weizen, den Berggängerinnen. Wilderei kommt im Jagdbanngebiet seit Jahrzehnten nur noch ganz selten vor. Die Jäger wüssten die Grenzen zu respektieren, wohl auch, weil aus einer einst überlebenswichtigen Nahrungsbeschaffung längst eine Passion geworden ist. Der einzige, der im Jagdbanngebiet zur Waffe greifen darf, ist der Wildhüter. Dann geht es meistens darum, verletzte, kranke oder sehr schwache Tiere von ihren Leiden zu erlösen. Weiter wird verhindert, dass sich ansteckende Krankheiten wie Gamsblindheit oder Moderhinke weiter ausbreiten können. Vereinzelt macht der Wildhüter am Rande des Jagdbanngebietes auch mal einen Vergrämungsabschuss, um Wildschaden in Grasweiden der umliegenden Bauern zu verhindern.
Im Winter wird es ganz still im Jagdbanngebiet. Es gibt nur eine offizielle Skitourenroute, die das Banngebiet streift. Das Wild steckt mitten im Überlebenskampf. Steinböcke harren in den steilsten, südexponierten Wänden aus, wo schon bei 30 Zentimetern Neuschnee die Lawinen niedergehen, um sogleich in den von den Lawinen abgeräumten Felsstücken nach den letzten vertrockneten Grashalmen Ausschau zu halten. Das Rotwild verlässt im Winter das Jagdbanngebiet und sammelt sich in milderen Tieflagen oder im Banngebiet auf ausgesetzten Kreten, wo der Wind den Schnee verbläst. Ihr Kreislauf ist im Schongang. Sie überleben mit einem Drittel der Nahrung. Werden sie gestört, verbrauchen sie viel Energie für die Flucht – Kraft, die ihnen in den letzten Winterwochen möglicherweise fehlt, um zu überleben.
Längst haben die 42 Schweizer Jagdbanngebiete, die 3,5 Prozent der Landesfläche belegen, ihren ursprünglichen Zweck erfüllt: den Schutz und die Wiedereinführung der Wildhuftiere. Heute seien sie für diese Tiere Refugien, „in denen sie ein ganzes Tierleben verbringen dürfen, ohne vom Menschen gestört oder bejagt zu werden“, sagt Rolf Wildhaber. Bestrebungen, den strikten Schutz aufzuweichen, wurde 1991 mit einer Revision der Verordnung über die eidgenössischen Jagdbanngebiete ein Riegel geschoben. So wurde nicht nur der integrale Schutz vor Bejagung bestätigt, und für Berggänger oder Skitourengeherinnen gilt seither die strikte Einhaltung der zulässigen Routen in den „Faunavorranggebieten“. Denn auch viele andere seltene Tier- und Pflanzenarten fühlen sich hier wohl: eine Erfolgsgeschichte des Naturschutzes, zu verdanken der Weitsicht jener, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannt hatten, dass es Grenzen gibt, die der Mensch in der Natur zu respektieren hat. Das wird auch in Zukunft so bleiben.

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