Bei beißender Kälte waren über Nacht zwanzig Zentimeter Neuschnee gefallen. Fröstelnd befreite Franz Leistner seinen kleinen Kettenjeep von dem feinen pulvrigen Schnee, der unter den Holzunterstand geweht war.

Es dauerte einen Moment bis der Motor ansprang und Franz sich den Weg aus dem nebeligen Tal in Richtung Berge bahnte. Man musste schon gute Ortskenntnisse haben, um unter der dichten Schneedecke den Wanderweg zur Bergalpe zu erahnen, den er nun mit dem Jeep spurte. Vor einem Jahr hatte er den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt und die Hütte gepachtet. Die Investition in eine neue Küche und der Vertrag mit der Brauerei ließen ihm nicht viel Spielraum. Letzte Nacht hatte ein Pärchen die Bergalpe für eine Liebesnacht gemietet. Ein willkommenes Taschengeld! Der Weg wurde steiler und Franz gab Gas. Kaum hatte er die Anhöhe erreicht, ließ er den Nebel unter sich und die Spitzen der Berge leuchteten in der Morgensonne. Tief verschneit lag das Plateau vor ihm. Die niedrige Holzhütte mit den kleinen Fenstern verschwand fast vollkommen unter dem Schnee. Mit Schwung bog er um die Ecke des Hauses und bremste abrupt. Mit einem gurgelnden Geräusch soff der Motor ab, während Franz sich vor Schreck bekreuzigte. Erst danach griff er zu seinem Handy und scrollte durch die Kontaktliste. Sobald am anderen Ende eine Stimme ertönte, schrie er ins Telefon: „Sepp, bei mir vor der Hüttn hängt ein Gekreuzigter!“

Sepp Haferl stampfte mit seinen Füßen auf der Stelle im Schnee, um die Blutzirkulation in Gang zu halten. Bei seinem überstürzten Aufbruch zu so früher Stunde hatte er es versäumt, sich warme Socken und Unterhosen anzuziehen. Entsprechend kalt wurde es ihm in seiner Polizeiuniform. Genervt blickte er auf seine Uhr. Wie lange würde es noch dauern, bis seine Kollegin mit den Herrschaften von der Spurensicherung endlich eintraf?

So eine Tatortbewachung war schließlich kein Zuckerschlecken bei diesen Temperaturen. Und dann erst die Leiche! Fernsehreif! Da hatte sich jemand wirklich Mühe gegeben mit dem armen Schorsch. Auch als Leiche machte er noch viel her, das musste man ihm lassen. Jetzt, als die Sonne höher stieg und direkt auf den Schneeberg vor der Aussichtsterrasse fiel, kam der nackte Mann am Kreuz gut zur Geltung. Obwohl der Kopf nach vorn gekippt war und Haferl dem Toten unbekleidet noch nie zuvor begegnet war, hatte er ihn sofort erkannte: Schorsch Rennerl, auch George Cloony des Allgäus genannt, einer der Skilehrer aus Klammbergen. Und standesgemäß war er auch an seinen Ski gekreuzigt worden. Offensichtlich hatte sein Mörder die Ski miteinander verbunden, um sie zu verlängern und im oberen Viertel die Skistöcke quer daran befestigt. Der Leichnam war mit Kabelbindern an Hand- und Schultergelenken an den Skistöcken festgebunden. Auch die Füße waren auf gleiche Weise an dem Ski fixiert. Bemerkenswert an diesem Gekreuzigten waren jedoch die Beigaben. Sein dunkles Haar, auf dem jetzt eine dicke Schneeschicht lag, zierte ein braunes Rentiergeweih aus Filz, wie es auf Weihnachtsmärkten verkauft wurde. Um seinen Hals baumelte an einer langen roten Schleife ein großes Lebkuchenherz, hinter dem sich der Stolz seiner Männlichkeit klein gefroren verbarg. In buntem Zuckerguss lautete der letzte Gruß an den Toten „Meinem Schatzerl“. Das ganze Gebilde steckte kunstvoll in einem hohen Schneeberg, direkt vor der Terrasse der Bergalpe. Die grandiose Aussicht ins Tal blieb dem Toten verwehrt. Mit Genugtuung nahm Haferl die athletische Figur und den ehemals sonnengebräunten Körper des Skilehrers in Augenschein, der jetzt von Blasen und blauroten Flecken übersät war. Zeichen einer Erfrierung. Unwillkürlich schlug Haferl seine klammen Hände aneinander und strich über seinen Bauch, an dem mangelnde Bewegung und ungezählte Maß Bier ihre Spuren hinterlassen hatten. Apropos Spuren: endlich kam seine Kollegin und mit ihr drei Männer von der Spurensicherung und ein Gerichtsmediziner. Im Schlepptau brachten sie die ersten Reporter und Schaulustigen mit. Touristen und Einheimische hielten sich zahlenmäßig die Waage. Haferl wies seine Kollegin an, den Tatort weiträumig abzuriegeln und begab sich erleichtert in die Gaststube der Bergalpe, um sich aufzuwärmen.

Am frühen Nachmittag kam Sepp Haferl ins Büro der kleinen Polizeistation. Schon in dem beengten Windfang hörte er seine Kollegin telefonieren. Ihm blieb auch nichts erspart. Im Sommer hatte sie sich auf eigenen Wunsch aus München ins beschauliche Allgäu versetzen lassen. Begonnen hatte sie ihre Polizeilaufbahn bei der Wasserschutzpolizei in Köln, war aber irgendwann nach München umgezogen. Da es ihr in der bayerischen Großstadt zu hektisch war, raubte sie jetzt ihm den letzten Nerv. „…bis heute war hier nie was los…“, kicherte sie ins Telefon:
„Natürlich gibt es hier sonst auch Verbrechen ... Im Spätsommer wurden zum Beispiel auf einer Weide alle Kühe mit lila Farbe besprüht… Lach nicht, die Bauern hier haben das sehr ernst genommen und mein Chef auch … Nein, meist ist es hier eher friedlich. Wenn nicht regelmäßig irgendwelche Autofahrer auf der Passstraße aus der Kurve fliegen würden, könnte man hier den Laden glatt dicht machen. …“ Haferl stampfte geräuschvoll den Schnee von seinen Schuhen und öffnete die Tür zur Amtsstube, in der er seit über dreißig Jahren Dienst tat. Frau Kraft saß an ihrem Schreibtisch und hatte sich gleichzeitig in Telefon und Bildschirm vertieft. Sein sonores: „Servus“, erwiderte sie mit einem kurzen Kopfnicken und schwenkte in einen geschäftsmäßigen Tonfall über:
„Okay, ich danke dir für die Informationen. Wenn Ihr noch was raus findet, ruf mich an. Tschüss bis bald!“ Dann wandte sie Haferl ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu: „Hallo, Chef. Ich habe gerade mit der Gerichtsmedizin gesprochen.“ Als Antwort klopfte Haferl gemächlich den Schnee von seiner Jacke und hängte sie an den Kleiderhaken. Auf dem Weg zu seinem Schreibtisch schenkte er sich eine Tasse Kaffee ein, und setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl, dessen Federung mit einem quietschenden Geräusch aufjaulte. „Na dann, schießen sie mal los!“ Diensteifrig nahm Frau Kraft einen Notizblock zur Hand. Schon an seinem ersten Schluck Kaffee verbrannte Haferl sich die Lippen. Leise fluchend pustete er über den Rand seiner Tasse und lauschte den Informationen, die wie ein Maschinengewehr über ihn hereinbrachen: „Der Tote heißt Schorsch Rennerl, neununddreißig Jahre alt, wohnhaft hier in Klammbergen, Freiberufler, im Winter arbeitete er als Skilehrer bei uns in den Bergen und im Sommer als Surf- und Tauchlehrer in Hurghada. Das ist in Ägypten“, ergänzte sie für ihn, während sie ihren Block wendete und fortfuhr: „Unverheiratet, keine Kinder. Vor zwei Monaten verstarb sein Vater. Er hat keine direkten Angehörigen mehr und den elterlichen Hof geerbt.“ Stolz blickte sie auf. Er schüttelte den Kopf. „Frau Kraft, mehr haben Sie nicht? Ich kenne den Schorsch seit neununddreißig Jahren, wir sind quasi Nachbarn. Dafür haben Sie so lange gebraucht?“ Ihr Blick war undefinierbar. „Und was sagt ihr Spezie von der Gerichtsmedizin?“, hakte er nach. „Ja…“ Sie räusperte sich und blätterte in ihrem Block weiter:
„Todeszeitpunkt etwa gegen drei Uhr in der Früh, Todesursache ist noch nicht ganz klar, aber wahrscheinlich Tod durch erfrieren. Herr Rennerl hatte erhöhte Alkoholwerte im Blut und eine Platzwunde am Hinterkopf. Die allein kann aber für den Tod nicht verantwortlich sein. Sie hat wohl zur Bewusstlosigkeit geführt und er ist dann später erfroren.“
„Mordskalt ist es ja“, warf Haferl trocken ein.
„Ach ja, und dann ist da noch eine Visitenkarte bei dem Leichnam gefunden worden.
„Eine Visitenkarte? Was denn für eine Visitenkarte?“
„Von einer Immobilienfirma aus der Schweiz.“
„Aber der Rennerl war doch komplett nackt. Wo hatte der denn bitte schön eine Visitenkarte?“
„Zwischen den Pobacken. Man hat sie ihm zwischen die Pobacken geklemmt.“
„Na das ist ja mal ein Ding. Da kann er sich seinen Hotelbau ja wirklich in den Arsch schieben.“ Sepp Haferl lehnte sich genüsslich zurück und verschränke grinsend beide Arme vor der Brust. „Wir brauchen da alle Daten: Firmenname, Kontaktperson, Telefonnummer.“ Sie nickte. „Und was wissen wir von der Spurensicherung, werte Kollegin?“
„Die Spurensicherung hat einen Vorabbericht per Mail geschickt.“ Frau Kraft griff nach ihrer Maus und überflog den Bildschirm. „Ja, genau hier ist es. Der Schnee hat die Sicherung der Spuren erheblich erschwert. Allein in den Morgenstunden sind zehn Zentimeter Neuschnee gefallen. Es gibt praktisch keine verwertbaren Fußabdrücke, außer Ihre natürlich und die vom Wirt. Aber sie waren ja als erste vor Ort.“ Sie blickte ihn über den Rand ihres Bildschirms an und Haferl nippte an seinem Kaffee. „Wir waren als erste da, genau. Aber für die Erkenntnis brauchen wir keine Spurensicherung.“
„Natürlich nicht. Die Skier und die Stöcke gehören dem Toten. Der Mörder hat aus Dachlatten ein stabiles Kreuz gezimmert und anschließend die Skier mit normalen Senkkopfschrauben oben drauf geschraubt. Die Skistöcke wurden seitlich mit Aluminiumschellen befestigt, wie man sie bei der Verlegung von Rohren verwendet. Alle Materialien, inklusive der Kabelbinder, mit denen der Leichnam fixiert wurde, sind in jedem Baumarkt zu bekommen. Es gibt keinerlei Fingerspuren, weder an dem Leichnam, noch an dem Kreuz und auch nicht an den Beigaben, sprich dem Rentiergeweih oder dem Lebkuchenherz.“
„Und in der Bergalpe?“
„Fehlanzeige! Die Reservierung erfolgte per SMS von einem Handy mit
Prepaid-Karte.“
„Hmmm“, Haferl strich sich nachdenklich über sein Kinn.
„Wissen Sie, was ich denke, Chef?“
Haferl wendete sich ihr zu und gab sich keine Mühe, den genervten
Tonfall zu verbergen: „Nein noch nicht!“
„Ich denke, es handelt sich um eine Beziehungstat. Eine ältere Dame, wie hieß sie doch gleich?“ Frau Kraft begann hektisch, in ihrem Notizblock zu blättern und gab dann auf: „Na, ist ja auch egal wie sie hieß. Jedenfalls hat sie erzählt, dass der Rennerl immer was am Laufen hatte mit seinen`Skihaserl´, so hat sie gesagt. Genau, hier stets: Beim Schorsch fing das Après-Ski schon in der Mittagspause an. Und dann hat sie noch gesagt, es gäbe weniger Hirsche im Wald als gehörnte Ehemänner in Klammbergen. So hat sie das gesagt, die Frau Kluger.“
„So, so die Frau Kluger, na die muss es ja wissen!“
„Ja und dann hat sie noch gewusst, dass ein achtzehnjähriges Mädel aus dem Dorf schwanger ist, angeblich vom Rennerl. Das Mädchen heißt…“, sie begann erneut zu blättern.
„Rosie Greisler“, kam ihr Haferl zu Hilfe.

Für den restlichen Nachmittag ordnete Haferl eine Aufteilung der Arbeitskräfte an, um Zeit zu sparen. Frau Krafts Vorschlag Verstärkung aus München anzufordern und eine Sonderkommission unter dem Decknamen Kruzifix zu bilden, lehnte er brüsk ab. Ihm hatten schon die fremden Kollegen von der Spurensicherung und Gerichtsmedizin gereicht, die hier in seinem Revier rumschnüffelten. Das Haus vom Rennerl hatte er sich bereits am Vormittag angesehen. Das einzig interessante war ein Adressbuch mit lauter Frauennamen. Hinter den meisten waren ein oder zwei rote Herzen als eine Art Klassifizierung gemalt. Manche Namen zierte auch ein schwarzes Minus, was immer das heißen sollte. Das Buch war gut gefüllt und er hatte es in seine Jackentasche geschoben. Zu Ermittlungszwecken, versteht sich. Während der Wintermonate wohnte der Skilehrer auf dem Hof seiner Eltern. Die Mutter war vor drei Jahren an Krebs gestorben und der Vater verunglückte im vergangenen November mit dem Auto auf der Passstraße. Ein tragischer Unfall, der das ganze Dorf in Aufregung versetzte, da zu befürchten stand, dass der Sohn, das elterliche Anwesen verkaufen würde. Interessenten gab es immer wieder, die im Ort umherschlichen und versuchten, günstig an Grundstücke zu kommen, um dann einen Hotelkomplex mit allem Pipapo aus dem Boden zu stampfen. Es gab mehr Gegner als Befürworter für diese Vorhaben und häufig prallten abends im Dorfkrug die konträren Meinungen beim Weißbier aufeinander.

Während Frau Kraft die Immobilienfirma überprüfen sollte und mit der Zeugenbefragung im Ort begann, fuhr Sepp Haferl auf den Greisler Hof. Es schneite noch immer und die Straßen waren schlecht geräumt. Wenn es so weiter ging, bestand die Gefahr, dass Klammbergen einschneite. Die Müllabfuhr hätte schon gestern kommen sollen, aber die Tonnen standen immer noch an der Straße. Im Schneckentempo erreichte Haferl den Hof. Kaum war er ausgestiegen, öffnete sich das Scheunentor und der alte Greisler kam ihm entgegen. Er steckte einen Schraubenschlüssel in seine Hosentasche und wischte seine ölverschmierten Hände an einem Putzlumpen ab. Das geöffnete Tor gab den Blick auf einen alten Traktor frei, an dem Greisler gearbeitet hatte: „Servus Sepp!“
„Servus. Wo ist denn die Rosie?“
„Was willste denn von ihr?“
„Na reden halt.“
„Wegen dem Rennerl, den Saukerl?“
„Weswegen denn sonst? Also wo finde ich sie?“
„In der Küche. Aber sie hat damit nichts zu tun. Lass sie in Ruhe! Ihr geht’s eh nicht gut.“ Der sonst so zähe, drahtige alte Mann mit den schütteren grauen Haaren wirkte niedergeschlagen und müde. Haferl klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und spürte die festen Muskeln lebenslanger harter körperlicher Arbeit. Zielstrebig steuerte er die Haustür an. Niemand hier kam auf die Idee, Eingangstüren abzuschließen. Tatsächlich fand er Rosie in der Küche, wo sie gerade den Geschirrspüler ausräumte. Die sonst blonden, lockigen Haare hingen ihr strähnig auf die Schultern, unter den glücklosen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Ihr ausgewaschenes rotes T-Shirt spannte über den deutlich gewölbten Bauch. Wie hatte sich das hübsche junge Mädel in so kurzer Zeit verändert. Warum war sie nur auf so einen Hallodri wie den Rennerl reingefallen? Da war sie nicht die erste, wie Haferl nur zu schmerzlich wusste, aber wohl zumindest die Letzte. Noch bevor er etwas sagen konnte, sprach sie ihn an.
„Servus Sepp, ich dachte mir schon, dass du oder deine Kollegin kommen werden.“
„Servus Rosie, ich komme lieber selbst. Die Frau Kraft hätte nur überflüssige Fragen gestellt.“
„Ist schon gut, Sepp. Willst du einen Kaffee?“ Sie nahm einen Stapel Teller aus dem Geschirrspüler und richtete sich dann auf.
„Nein, danke. Ich wollte nur schauen, wie es dir geht.“
Sie lachte bitter auf. „Wie soll es mir schon gehen. Du siehst ja, das Kind wächst und gedeiht. Auch wenn es keinen Vater mehr hat. Aber den hätte es ja sowieso nicht gehabt.“
„Wie stand denn der Schorsch zu der Vaterschaft?“
Das Müde in ihren Augen wich einem zornigen Blitzen: „Das weißt du doch! Abgelehnt hat er es. Ich hätte ihn gelinkt hat er überall erzählt und wolle ihm nun ein Kind anhängen.“
„Und ein Vaterschaftstest?“
„Den kann ich erst machen, wenn das Kind geboren ist. Vorher ist das Risiko zu groß und ändern tut es jetzt ja auch nichts mehr.“
„Sag das nicht. So wie es aussieht, gibt es keine rechtmäßigen Erben. Das heißt, wenn das Kind von ihm ist…“, den Rest ließ Haferl absichtlich in der Schwebe. Aber er war ein genauer Beobachter und ihm entging das Zucken in ihrem Gesicht nicht.
„Wo warst du denn eigentlich letzte Nacht, Rosie?“
Sie schnaubte verächtlich und strich über ihren Bauch: „Meinst du jetzt, ich hätte ihn ans Kreuz gehängt? Leider nicht, aber ich hätte liebend gern die Nägel angereicht. Stattdessen habe ich mich nur schlaflos im Bett gewälzt. Allein!“
Haferl ging zur Tür. „Nichts für ungut, Rosie. Servus.“
„Sepp?“ Er drehte sich um. „Kann ich ihn noch einmal sehen?“ Ihre Traurigkeit rührte ihn. „Lass es lieber. Er schaut nicht gut aus. - Ach Rosie, wie hat er dich eigentlich immer genannt?“
„Schatzerl. Warum?“
„Nur so. Pfiat di.“
Als er vom Hof fuhr, sah Haferl im Rückspiegel, wie der alte Greisler ihm hinterher blickte.

Auf seinem Schreibtisch fand Haferl die gewünschten Daten von der Immobilienfirma. Die tüchtige Frau Kraft hatte eine Gesprächsnotiz beigefügt, aus der hervorging, dass Schorsch Rennerl tatsächlich mit der Firma in Kontakt stand. Man war dabei, sich über einen Kaufpreis für den Hof und die dazugehörigen Ländereien zu einigen. Der Bürgermeister von Klammbergen hatte bereits sein Wohlwollen für ein solches Bauprojekt signalisiert, streng vertraulich selbstverständlich. Haferl schnaubte verächtlich. Es war schon dunkel, als Frau Kraft in die Polizeistation zurückkehrte. Noch während sie ihre Uniformjacke auszog, sprudelten Haferl ihre neu gewonnenen Erkenntnisse entgegen. Sie schien mit so ziemlich jedem aus dem Vierhundert-Seelen-Dorf gesprochen zu haben. Als sie auf ihren Besuch bei der örtlichen Sparkasse kam, blühte sie richtig auf und Haferl beschloss im Stillen, demnächst sein Konto zu einer auswärtigen Bank zu verlegen. Der Sparkassendirektor war selbst gegenüber der Polizei zu redselig.
„Wussten Sie, dass der Rennerl eine größere Summe nach Ägypten transferiert hat, um dort die Anzahlung für eine Tauchschule zu leisten?“ Haferl schüttelte den Kopf. „Und den Wirt von der Bergalpe, den Franz Leistner, müssen wir uns auch noch einmal vornehmen. Der hat sich bei der Übernahme der Wirtschaft auch ganz gut verschuldet. Bei der Gelegenheit habe ich erfahren, dass die Bergalpe auf dem Grundstück des Toten liegt. Haben Sie das gewusst?“ Haferl nickte. „Wenn der Rennerl jetzt also sein Hab und Gut an die Immobilienfirma verkauft hätte, wäre der Leistner seine Bergalpe früher oder später los gewesen. Und es ist ja schon ein bisschen komisch, dass der Leichnam ausgerechnet vor seiner Hütte gekreuzigt wurde mit einer Visitenkarte im …“
„Arsch“, beendet Haferl den Satz.
„Übrigens habe ich die Frau Kluger noch einmal getroffen und die meint, dass es ja auch gar nicht gesichert ist, dass das Kind vom Leistner auch wirklich vom ihm selber ist. Denn der Bub hätte so ganz andere Augen – mehr blau wie der Rennerl.“
„Das ist ja wohl kein Beweis!“ Haferl erwog der Alten bei nächster Gelegenheit den Hals umzudrehen.
Frau Kraft hatte sich an ihrem Schreibtisch niedergelassen und begann, eine Büroklammer zwischen ihren Fingern zu verbiegen. Sie erkundigte sich nach dem Stand von Haferls Ermittlungen und er setzte sie kurz ins Bild.
„Da hat die Rosie Greisler doch eindeutig ein Motiv, wahrscheinlich das stärkste von allen“, frohlockte Frau Kraft.
„Aber keine Gelegenheit, oder wie hätte sie den Leichnam ans Kreuz binden und aufrichten sollen?“
„Da braucht es schon mehr Power“, pflichtete Frau Kraft ihm bei. Die Büroklammer in ihren Händen zerbrach.
„Der Sparkassendirektor hat da noch so ein bisschen was erzählt“, begann sie zögernd. Haferl spannte seine Mundwinkel an, was ihm einen verbissenen Ausdruck verlieh. „Und was hat er noch gewusst?“
„Nun ja“, sie hielt kurz inne und fuhr dann entschlossen fort: „Er erzählte mir, dass Sie seit der Scheidung von Ihrer Frau auch nicht unerheblich verschuldet sind. Sie mussten ihr die Hälfte von dem Hof auszahlen, den Sie von Ihren Eltern geerbt haben. Um die Hypothek zu bedienen, hätten Sie den Hof verpachtet und würden selbst in einer ehemaligen Ferienwohnung im Austragshäuserl wohnen.“ Haferl lachte gekünstelt.
„Und wie Sie ja selbst gesagt haben, sind Sie der Nachbar vom Rennerl. Und wenn auf dessen Grundstück ein Hotel entsteht, ist es von Ihrem Hof aus mit der unverbauten Bergsicht auch vorbei. Außerdem müssten Sie über Ihrem Grundstück eine Durchfahrtsstraße dulden, notfalls mit Zwangsenteignung.“ Das letzte sprach sie genüsslich.
„Und das macht mich jetzt verdächtig oder wie?“ Ärger stieg in ihm hoch.
„Natürlich nicht das allein, aber die Frau Kluger meinte, Ihre Ehe sei damals auseinandergegangen, weil Ihre Frau einen Liebhaber hatte. Sie wollte keine Namen nennen, aber es liegt doch nahe…“ Haferl dachte an das Adressbuch in seiner Jackentasche. Mühsam unterdrückte er seinen Zorn, doch seine Stimme bebte: „Das sind üble Verleumdungen!“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht!“ Wie eine Viper ihre Beute fixierte Frau Kraft ihren Chef: „Und kräftig sind Sie ja auch.“ In selben Moment donnerte Haferl seine Faust auf die Schreibtischplatte. Wie ein Echo ertönte der Aufprall des Lochers auf dem Fußboden.
„Jetzt reicht´s!“ Mit hochrotem Kopf sprang er auf und sein Schreibtischstuhl rollte krachend an die Wand. „Von Ihnen lass ich mir und auch sonst niemandem hier im Dorf einen Mord anhängen. Und solange die Kleidung vom Rennerl nicht gefunden wurde und der Tathergang nicht geklärt ist, schon gleich zweimal nicht.“ Wütend griff er nach seiner Jacke und verließ die Polizeistation. Als die Tür ins Schloss knallte, vibrierten die Fensterscheiben. Draußen schneite es immer noch. Er musste dringend nachdenken. Unbeherrscht trat er gegen die Mülltonne, die im Polizeihof stand und immer noch nicht geleert war. Aber statt Erleichterung verspürte er nur wie der herabfallende Schnee, den er losgetreten hatte, oben in seinen Schuh rieselte und seine Socken durchnässte. Mit hochgestelltem Kragen machte er sich auf den Heimweg, die Hände tief in seinen Jackentaschen vergraben, wo er den ledernen Einband des Adressbuches spürte. Ungeduldig wartete Sepp Haferl am nächsten Tag vor seiner Haustür. Es war schon der zweite Morgen, den er frierend im Freien verbrachte. Die dunklen Augenringe verrieten den fehlenden Schlaf der letzten Nacht. Haferl begann mit den Füßen zu stampfen und die kalten Hände ineinander zu reiben. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis ein Lichtschein die Zufahrtsstraße zu seinem Haus entlang kroch. Nach einer kurzen Begrüßung stieg er zu den Kollegen in den Fond des Polizeiautos. Eine viertel Stunde später drückte er den Klingelknopf neben einer altmodischen Haustür. Sie mussten sich gedulden, bis im Inneren des Hauses ein Licht anging und ein klapperndes Geräusch das Öffnen der Tür ankündigte. Nachdem sie eingelassen worden waren, konnte er endlich tun, wofür er die Nacht gearbeitet hatte:
„Frau Kraft, ich verhafte Sie wegen Verdacht des Mordes an Schorsch Rennerl!“
Seine Kollegin stand ungläubig vor ihm und schüttelte den Kopf: „Das ist jetzt nicht wahr!“ Fassungslosigkeit spiegelte sich in ihrem Gesicht. Mit beiden Händen zog sie ihren Bademantel fest über der Brust zusammen.
„Was wollen Sie? Wie kommen Sie darauf, ich hätte Schorsch Rennerl umgebracht? Im Gegensatz zu Ihnen und so manchem anderen hier in Klammbergen habe ich ja nun überhaupt kein Motiv! Glauben Sie ihm kein Wort“, wandte sie sich an die beiden uniformierten Kollegen. „Er will mir da einen Mord anhängen, den er selbst begangen hat!“
„Frau Kraft, Ihre Rechte muss ich Ihnen nicht vorlesen, die kennen Sie selbst. Und niemand will Ihnen etwas anhängen. Ihr Name steht in seinem Adressbuch mit einem dicken schwarzen Minus. Ein Kollege in Köln hatte eine ruhige Nachtschicht und erwies sich als sehr gesprächig. Sie haben Schorsch Rennerl vor fünf Jahren kennengelernt. Während Ihrer Zeit bei der Wasserschutzpolizei haben Sie einen Tauchurlaub in Hurghada gemacht und ihn dort getroffen. Zunächst war es nur ein Flirt, aber Rennerl wollte mehr. Und dieses Mehr hat er sich mit Gewalt genommen, nachdem Sie freiwillig nicht dazu bereit waren.“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Als Sie ihn mit einer Anzeige konfrontiert haben, hat er Sie bei einem der nächsten Tauchgänge von der Gruppe separiert und es ist zu einem Handgemenge unter Wasser gekommen. Aber er hat Ihre Sportlichkeit und Kraft unterschätzt. Sie konnten sich befreien und haben den Tauchgang unbeschadet überstanden. Nur beweisen konnten Sie ihm nichts. Es gab keine Spuren und keine Zeugen. Ihre Anzeige in Deutschland verlief im Sand.“
Tonlos flüsterte sie: „Das ist nicht wahr!“
„Doch Frau Kraft, es ist wahr. Nach dem traumatischen Tauchgang war Ihre Beschäftigung bei der Wasserschutzpolizei nicht mehr länger möglich. Und als auch Ihre rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, haben Sie systematisch an Ihrer persönlichen Vergeltung gearbeitet. Erst haben Sie sich nach München versetzen lassen und dann zu uns nach Klammbergen. Sie haben die ganze Zeit Informationen über Rennerl und sein Leben gesammelt. Ihnen war klar, dass einer wie er nicht nur Freunde haben würde.“
„Und wie soll ich das Ihrer Meinung nach angestellt haben?“
„Sie haben für vorgestern Abend die Bergalpe beim Franz Leistner reserviert und den Rennerl für zwanzig Uhr dort oben einbestellt. Als er kam, gaben Sie ihm zu trinken. Es kam zum Streit und Sie haben ihn mit einem Holzscheid bewusstlos geschlagen. Bis er wieder zu sich kam, war er schon nackt ans Kreuz gebunden und ist elendig erfroren.“
„Dafür haben Sie keinerlei Beweise. Es gibt keine Spuren!“, kreischte sie mit einer Spur von Hysterie.
„Das ist richtig. Aber Sie haben eines nicht bedacht. Durch den Schneefall ist die Müllabfuhr seit zwei Tagen überfällig und in Ihrer Tonne liegt ein Sack mit Kleidung und ein Paar Latexhandschuhe. Ich bin sicher, die Spurensicherung findet dort, was sie braucht.“
Haferl konnte ihr gerade noch rechtzeitig unter die Arme greifen, bevor sie zusammensackte. Fast tat sie ihm leid. Trotzdem musste er noch eines wissen: „Mir ist nur nicht klar, warum er zu Ihnen auf die Bergalpe gekommen ist.“
„Ich habe mich als Ihre Frau ausgegeben.“