Das hintere Taminatal: ein ideales Wolfsrevier
«Die Frage nach einem idealen Lebensraum für den Wolf erübrigt sich. Die Wölfe suchen sich selbst ihren Platz. Und hier im Taminatal haben sie ihn gefunden». Der Wildhüter Rolf Wildhaber zeigt auf ein Felsband im hinteren Taminatal. «Dort hat das Wolfspaar M30 und F07 im Jahr 2012 ein Wolfsrudel begründet.» Es war der erste Schweizer Wolfsnachwuchs seit eineinhalb Jahrhunderten. Wo genau die Stelle liegt, verschweigt Wildhaber. Aus guten Gründen. Die Wölfe sollen unter sich bleiben, und das wäre, wenn bekannt würde, wo sie ihre Jungen aufziehen, alles andere als garantiert. 30 Wölfe hat das Wolfspaar im Taminatal (und im benachbarten Calanda-Gebiet) aufgezogen, deren acht alleine im Jahr 2017.
Von der Westflanke des Chimmispitz aus zeigt sich das in Nord-Süd-Richtung verlaufende Tal schroff, beinahe abweisend, mit steilen, unzugänglichen Felsflanken, die der namensgebende Fluss seit dem Ende der letzten Eiszeit herausgeschnitten hat. Erst oberhalb der Waldgrenze wird das Gelände bis nahe an die Gipfel etwas flacher, herausgehobelt von mächtigen Gletschern. Doch das wird das Wolfspaar nicht interessiert haben, als es hier den Bund fürs Leben schloss. Beide stammen, wie genetische Untersuchungen gezeigt haben, aus Italien. Sie sind, wie es bei Wölfen üblich ist, im jungen Erwachsenenalter (Wölfe werden erst im dritten Lebensjahr geschlechtsreif) aufgebrochen, um neue Lebensräume zu erkunden, mit der Hoffnung, ein eigenes Rudel zu begründen. Die Männchen lassen es in ihren Lehr- und Wanderjahren stets etwas schneller angehen als die Weibchen. Unabhängig vom Geschlecht sind die Überlebenschancen eher gering. In der Schweiz gelang der erste Wolfsnachweis schon im Jahr 1996, und es war klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis es zu einer ersten Rudelgründung kommt. Männiglich hatte mit dem Kanton Wallis gerechnet, wo die meisten Wölfe aus dem benachbarten Aostatal zuwandern. Doch manche Wölfe zogen weiter. Das ist nicht weiter ungewöhnlich. Junge Wölfe aus dem Rudel aus dem Taminatal (meist als «Calanda-Rudel» bezeichnet) haben sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut, bis Bayern und ins Trentino reichen ihre Spuren. Doch der Zufall wollte es, dass sich M30 und F07 im Taminatal im Sommer 2011 das erste Mal begegneten und Gefallen aneinander fanden. Es hätte auch irgendwo anders in den Schweizer Alpen sein können. Experten meinen, hier und im Jura hätte es Platz genug für 20 Wolfsrudel. Aktuell sind es mit dem Calanda-Rudel deren drei, ein weiteres im Kanton Tessin und eines im Kanton Wallis.
250 Quadratkilometer Reviergrösse
Doch was macht das Taminatal so geeignet? «Es gibt hier viel Platz, wenige Menschen und viel Wild,» erklärt Rolf Wildhaber. So einfach ist das. 250 Quadratkilometer umfasst das Revier des Rudels. Es reicht damit über die Grenzen des Taminatales hinaus. Für die sehr mobilen, leichtfüssigen Wölfe ist es ein Leichtes, diesen immensen Lebensraum zu nutzen. Relativ stationär sind sie nur in den ersten Monaten nach der Geburt der Jungen. Danach folgen sie primär ihrer Hauptbeute, den Rothirschen, die sich wiederum am vorhandenen Nahrungsangebot orientieren. Vor allem Jäger hatten befürchtet, die Hirschbestände würden dramatisch einbrechen. Doch das hält sich, wie Rolf Wildhaber beobachtet, in recht engen Grenzen. Er schätzt den durch Wölfe verursachten Bestandesverlust auf zehn Prozent. Der auf längere Sicht wesentlich deutlichere Rückgang vor allem bei der Hauptbeute der Wölfe, den Hirschen, sei auf eine veränderte Jagdpolitik im benachbarten Kanton Graubünden zurückzuführen. «Und die Hirsche reagieren natürlich auch auf den Wolf. So haben wir im weiter westlich liegenden Weisstannental etwas mehr Hirsche als vor Ankunft der Wölfe.» Die Fleischmengen, die ein Wolfsrudel fürs Überleben benötigt, haben es aber schon in sich. Eine Hochrechnung – Wölfe benötigen täglich um die vier Kilogramm Fleisch – auf das aktuell zehnköpfige Rudel ergibt einen Bedarf von rund 300 Schalenwildtieren. Im Taminatal sind das Rothirsche, Rehe, Gämsen und Steinböcke, wobei die Wölfe es vor allem auf die Hirsche abgesehen haben. Gämsen und Steinböcken vermögen sie nur begrenzt zu folgen, wenn sie sich ins felsige Gelände flüchten, und Rehe kommen nur vereinzelt vor. Die Schalenwildbestände schätzt Wildhaber im Revier des Calanda-Rudels auf über 2000 Tiere. Für den Wald in der Region, dessen Baumnachwuchs stark unter Wildverbiss leidet, tun die Wölfe Gutes, wenn sie die Wildbestände reduzieren, wie das Amt für Naturgefahren des benachbarten Kantons Graubünden festhält. In den Berggebieten schützen etwa zwei Drittel der Wälder Siedlungen und Verkehrsweg vor Steinschlag, Muren und Lawinen, in vielen Gebieten herrschten Zustände, die langfristig nicht mehr tolerierbar seien. Rund ein Fünftel der Schutzwälder haben wegen des Verbisses am Baumnachwuchs Probleme, sich zu verjüngen.
Rolf Wildhaber weiss genau Bescheid über die Wölfe im Taminatal.
«Es war eine Freude, die Wölfe zu sehen.»
Und die Jäger? «Es war an einem schönen Wintertag. Ich hatte gerade den Fenstervorhang auf meiner Hütte im hinteren Taminatal zur Seite geschoben, als ich einen Wolf erblickte. Was für ein schönes Tier, dachte ich mir. Da kamen aus dem Wald noch drei weitere Wölfe dazu. Sie waren alle ganz aufgeregt, offensichtlich im Jagdfieber. Schliesslich stoben sie die Wiese hinunter und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Ich fühlte mich zu keinem Augenblick bedroht, im Gegenteil. Es war eine Freude, diese Wölfe zu sehen. Und doch ist es mir nicht wohl, sie so nah an menschlichen Siedlungen zu wissen. Wölfe gehören in die Wildnis. Aber nicht in ein bewohntes Tal. Hier haben sie schlicht zu wenig Platz.» Oswald Sprecher, der so von den «Calanda-Wölfen» zu schwärmen weiss und sie doch nicht in seiner Nähe haben will, ist Jäger aus Passion. In einer umgebauten Scheune präsentiert er seine Trophäensammlung mit Wild aus aller Welt. Wölfe habe er auf seinen Jagdreisen in Osteuropa und der Mongolei gesehen. «Dort haben sie im dünn besiedelten Gebiet genug Platz. Aber die Menschen wollen sie loshaben. Hier müssen wir mit ihnen leben.» Er respektiere und achte die geltenden Regeln, betont Sprecher. «Aber als Jäger fällt es schon schwer, die Wölfe als Beute-Konkurrenten zu akzeptieren.» Ihm täten die Wölfe aber auch leid. «Sie haben hier kein artgerechtes Leben.» Diese Meinung ist öfters im Taminatal zu hören. Auch Susi Blöchlinger, die mit ihrem Mann in St. Margrethenberg einen Bauernhof und das «Buure-Beizli» bewirtschaftet, sähe die Wölfe lieber im tiefen Wald eines fernen Landes. Eine Zwergziege sei am hellichten Tag von einem Wolf gerissen worden, durch das Hofgatter habe er die Geiss gezerrrt und einen Steinwurf weiter weg teilweise verzehrt. Um den Hühnerstall sei einer geschlichen, als sie diese füttern wollte, und ihr Mann habe einen Wolf mit dem Stecken verjagt. «Das geschieht alles vor unserer Haustüre. Es ist wie mit dem Fluglärm. Die, die ihn verursachen, kümmert das nicht – bis sie selbst davon betroffen sind. Es gibt hier in der Nähe eine Höhle. Da bin ich schon als Kind gerne herumgestreift. Meinen Kindern erlaube ich das nicht mehr.» Sie wünsche sich, dass zumindest jene Wölfe, die den Menschen zu nahe kommen, abgeschossen werden. Tatsächlich haben sich in diesem Sommer Wölfe häufig in den Wäldern rund um den schmucken Weiler aufgehalten. Wildhüter Rolf Wildhaber weiss genau Bescheid über den Aufenthaltsorts des Wolfsrudels – das notabene nicht immer im geschlossenen Verband unterwegs ist. Die Informationen liefern mehrere Fotofallen, dazu eigene Sichtungen und die Meldungen aus der Bevölkerung. Darunter finden sich manche Filme, die mit dem Smartphone aufgenommen werden. Eine Pilzsammlerin schreckte in einem Wald bei St. Margrethenberg einen schlafenden Wolf auf. Der habe für einige Sekunden ihren Blick fixiert und sei dann davongetrottet, hat sie Wildhüter Rolf Wildhaber berichtet. «Wirklich gefährlich war das nicht, auch der Wolf war wohl so erschrocken wie die Frau. Sie wird den Wald in Zukunft trotzdem meiden». Er habe schon einige ähnliche Begegnungen gehabt. «Die Wölfe rennen nicht einfach weg. Sie bleiben für ein paar Sekunden stehen, vielleicht einfach, um zu sehen, was passiert. Dann trollen sie sich. Deshalb ist es so einfach, ein Photo zu schiessen oder ein Video zu drehen. Man hat Zeit, und man hat nichts zu befürchten». Der Mensch sei für die Wölfe im Taminatal weder Gefahr noch potenzielle Beute. «Sie haben bislang keinerlei negative Erfahrungen mit Menschen gemacht. Für sie sind wir einfach Teil ihres Lebensraumes.» Menschen sind bislang keine zu Schaden gekommen. Ausschliessen kann Wildhüter Rolf Wildhaber dies aber nicht. Das Schreckensszenario wäre ein verletzter Wolf, dem jemand, vielleicht in der Absicht zu helfen, zu nahe kommt. «Der Wolf wird sich angegriffen fühlen. Das kann tödlich enden.» Denkbar wäre auch eine Infektion mit der Tollwut – die Schweiz gilt seit 1998 als frei von Tollwut - oder der Staupe, die in der Ostschweiz letztmals 2009 verheerend unter der Fuchspopulation gewütet hat. Das Verhalten erkrankter Tiere ist unberechenbar.
Wolf aus dem Fenster heraus fotografiert
Auch im Dorf Vättis wird von Wolfssichtungen berichtet. Einer Frau gelang aus dem Fenster heraus eine Aufnahme des ganzen Rudels, das sich im Winter 2013 am Dorfrand im Gänsemarsch am Waldrand bewegte. Das Bild ging um die Welt. In eine Fotofalle an einer Weggabelung unweit des Dorfzentrums tappen wöchentlich ein bis zwei Wölfe – nirgends in der Schweiz wird eine so hohe Wolfdichte registriert. Sonja Sprecher, Wirtin im Hotel – Restaurant Tamina, hat einen Wolf auf dem Platz vor dem Gebäude gesehen. «Das ist nicht gerade das, was man sich wünscht. Anderseits habe ich mich auch gefreut, einen Wolf so nahe gesehen zu haben.» Die grundsätzliche Opposition gegen den Wolf, wie es sie in den ersten Jahren seines Auftauchens gegeben habe, sei heute weitgehend verstummt. «Wir haben den Wolf akzeptiert, und wir haben gelernt, mit ihm zu leben. Wir würden uns wünschen, dass auch die Medien das tun.» Vieles sei in der Berichterstattung verzerrt dargestellt, aus dem Zusammenhang gerissen oder dramatisiert worden. So will sich heute kaum jemand exponieren, die meisten winken ab. Eine Reporterin des Schweizer Fernsehens sei in ihrem Restaurant auf eine Mauer des Schweigens gestossen. «Niemand wollte mir ihr reden. Nicht, weil es nichts zu sagen gab, sondern, weil es nicht gehört werden würde.» So flackert immer mal wieder ein medialer Blitz auf, etwa, wenn ein Bauer behauptet, einige seiner Schafe seien von Wölfen gerissen worden. Die DNA-Analyse sollte Wochen später zeigen, dass es seine eigenen Hunde gewesen waren. Niemand berichtete.
Geld gegen DNA-Nachweis
Rolf Wildhabers’s Mobiltelefon klingelt. Ein Landwirt meldet einen Wolfsriss an einem Schaf. «Haben Sie das gerissene Tief angefasst?», fragt Wildhaber. Der Mann ist sich nicht mehr ganz sicher. «Lassen sie es bitte ruhig liegen und berühren sie es vor allem am Kopf nicht, an der Stelle, an der der Wolf zugebissen hat. Mein Kollege wird sich darum kümmern und eine DNA-Probe nehmen.» Wölfe töten mit unglaublicher Kraft durch einen Biss in den Nacken oder an der Kehle. Auch grössere Tiere haben dem wenig entgegenzusetzen, ebenso Hunde und Menschen. Die Beute fressen sie in der Regel nicht auf einmal. Sie verstecken sie dabei aber nicht wie etwa der Luchs. DNA-Proben sind seit Jahren Standard, wenn grosse Beutegreifer wie Wolf, Luchs oder Bär zuschlagen. Das dient zum einen der Forschung, zum andern der Klärung der Frage, ob es tatsächlich ein Raubtier warm und, wenn ja, um welches Individuum es sich handelt. Treibt dieses es zu bunt – die Kriterien sind im Konzept «Wolf Schweiz» bis ins Detail geregelt - , darf es abgeschossen werden. Beim Calanda-Wolf wurden bisher zwei solcher befristet gültige Ausnahmebewilligungen erteilt. In beiden Fällen entkamen die Wölfe, was, je nach Standpunkt der Kritiker zum Wolf, entweder auf die viel zu eng gefassten Bedingungen oder auf mangelnden Willen der Schützen zurückzuführen gewesen sein soll. Tatsächlich wäre in einem Fall ein Abschuss nur zulässig gewesen, wenn der Wolf sich im Rudel in Dorfnähe gezeigt hätte. Damit hätte dem ganzen Rudel ein Zeichen gesetzt werden sollen, dass eine Annäherung an Siedlungsgebiete tödlich enden kann. Der betreffende junge Wolf, der sich zuvor erdreistet hatte, in einem weiten Umkreis in Ställe einzudringen, verschwand kurz darauf und ist nie wieder aufgetaucht. Die Vermutung liegt nahe, dass er gewildert wurde. Nicht auszuschliessen ist, dass andere Wölfe seinem Beispiel –der Wolf übersprang Zäune und Gatter – folgen könnten. Vor allem junge Wölfe probieren auf ihren Streifzügen einiges aus, sie lernen aber auch voneinander – und gehen dabei beträchtliche Risiken ein. Von den 22 Jungwölfen, die in den Jahren 2012 bis 2016 das Licht der Welt im Taminatal erblickt haben, leben nur noch wenige. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Und auch jene, die überlebt haben, sind nur in Ausnahmefällen zurückgekehrt. Manche leben über Jahre unbehelligt und unbeschoren in der Einsamkeit.
Bruno Zähner, Schafbauer, auf der Alp Zanai, schützt seineTiere mit Herdenschutzhunden
Herdenschutz gutes Rezept gegen Wolf
Die Schäden an Nutz- und Haustieren haben sich im Taminatal bislang in Grenzen gehalten. Das liegt auch daran, dass man auf den Wolf vorbereitet war und sich rasch an die Umsetzung eines Schutzkonzeptes machte. Dem Beispiel anderer Länder, namentlich Frankreich, folgend, setzte man dabei auf Herdenschutzhunde, deren Haltung mit staatlichen Beiträgen gefördert wird. Auch im Zanaital, das einem wilden Seitental, das sich von Valens aus in westlicher Richtung erstreckt und in einem steilen, halbkreisförmigen Kessel endet. Noch bis in die 1970er-Jahre wurde das Rindvieh hinauf getrieben, seither weiden hier im Sommer nur noch Schafe und Ziegen. Bruno Zähner übernahm die Alp im Jahr 2013. Auf seinem Hof in Illnau-Effretikon hält er 300 Schafe, auf der Alp im Zanaital sind es deren 900 und eine Herde mit 160 Ziegen. Zwei Hirtinnen und Hirten kümmern sich um die Tiere während der Alpzeit von Anfang Juni bis Ende September. Eigentlich sind es drei Alpen: Alp Lasa, Unterzanai und Oberzanai, mit einer Gesamtfläche von 600 Hektaren. Davon ist etwa die Hälfte Weideland. Das Gelände ist an vielen Stellen steil. Nur bis zur Hütte der ersten Alp Lasa auf knapp 2100 Metern führt ein schmaler Weg, offizielle Wanderwege gibt es im ganzen Alpgebiet nicht. Der Zugang zu den beiden anderen Alpen sei nur sehr geübten Berggängerinnen und Berggängern empfohlen. Für die Wölfe sind diese steilen, weglosen Weiden natürlich keinerlei Hindernis. Ihm sei von Anfang klar gewesen, dass er seine Tiere vor Wolfsattacken schützen müsse, sagt Bruno Zähner. Nach vier Jahren zieht er eine positive Bilanz: Kein einziges Schaf und keine Ziege wurden Opfer eines Wolfes, auch wenn sich immer mal wieder einer habe blicken lassen. Sein Konzept baut, neben der Behirtung, auf nächtliches Einzäunen und auf Schutzhunde. Insgesamt sind es sieben, zwei von ihnen kümmern sich um die 250 Schafe auf der Alp Lasa. -Sie arbeiten im Team. Während einer an den Grenzen der Weide patrouilliert – und diese auch auf Hundeart markiert -, sitzt der andere mitten zwischen den Schafen auf einem Felsen, um zu beobachten. Sie sind darauf trainiert, bei Attacken von Raubtieren zu kämpfen, beim Menschen sich aber aufs Bellen und Beobachten zu beschränken. Sven Baumgartner von der Anlaufstelle Herdenschutz des Kantons St. Gallen demonstriert bei einem Selbstversuch, wie das geht. Direkt hält er auf ein paar Schafe zu und wird vom Schutzhund mit lautem Kläffen gestellt. Baumgartner geht auf die Knie, um auf Augenhöhe mit dem Tier zu sein und streckt ihm die Handfläche entgegen, um seine friedliche Absicht zu bekunden. Der Hund geht darauf ein und zeigt mit wedelndem Schwanz, dass es in Ordnung ist. Als Frauenfelder weiter geht, bleibt er aber immer in seiner Nähe, bis dieser das Revier wieder verlassen hat. Herdenschutzhunde wachsen unter Schafen auf. Sie beschützen sie instinktiv und riskieren dabei auch ihr Leben. Wildhüter Rolf Wildhaber berichtet von einem nach einer Wolfsattacke übel zugerichteten Schutzhund, der nur knapp überlebt habe. Auf der Alp Zanai geniessen die Nutztiere keinen integralen Schutz. «Dazu bräuchte ich noch ein paar Schutzhunde mehr. Das Gebiet ist einfach zu gross», sagt Zähner. Aber das Risiko nehme er aus Kostengründen in Kauf. Der Mehraufwand mit den Schutzhunden werde zwar mit Beiträgen der öffentlichen Hand teilweise abgegolten, die Kosten etwa für deren Ausbildung gingen aber auf seine Kappe. Insgesamt, sagt Zähner, ende die Alpsaison für ihn mit einer ausgeglichenen finanziellen Rechnung. Das Geld für den Lebensunterhalt verdient er in seinem Talbetrieb in Illnau-Effretikon, wo er während der viermonatigen Alpzeit kein Futter für die Schafe braucht und inzwischen auch grosse Teile des Kraftfutters selbst produziert. Dem Wolf selbst stehe er neutral gegenüber. Ein noch nicht recht gelöstes Problem sei die Haltung der Schutzhunde ausserhalb der Alpzeit. «Sie sind ja darauf trainiert, die Herde zu bewachen. Doch dann gibt es keine Gefahr, und sie sind praktisch arbeitslos. Deshalb brauche es einigen Zeitaufwand, sie zu beschäftigen». Probleme macht auch das laute Gebell der Schutzhunde auf den Winterweiden. Einmal habe er nach telefonischen Beschwerden die Hunde über Nacht aus der Herde genommen. Am nächsten Morgen habe er gerissene Schafe in der Herde gehabt. Die Übeltäter waren streunende Hunde gewesen.
Der Herdenschutz bewähre sich insgesamt gut, sagt Sven Frauenfelder. Aktuell gebe es Wartelisten, nicht alle Herden könnten bewacht werden. Perfekt werde der Schutz aber nie sein. «Risse können wir nicht ausschliessen. Aber sie werden entschädigt, sobald ein Wolfsriss nachweisbar ist.» Ihm bereiten auch Wandererinnen und Wanderer Sorgen, die sich im Alpgebiet abseits der Wanderwege aufhalten. «Unschöne Begegnungen mit den Schutzhunden sind da nicht auszuschliessen, und nicht jeder weiss, wie er sich zu verhalten hat.» So sei es schon zu einigen Bissen gekommen. Auch das Gebell habe schon zu Klagen geführt. Doch hier beisse sich die Katze in den Schwanz. «Es ist schon so: Wer Ja sagt zum Wolf, muss schon auch Ja sagen zu Schutzmassnahmen.»
Slowenien und der Wolf: Herdenschutz und Bejagung
Noch Anfang der 1990er-Jahre waren die Bestände des dinarischen Wolfes in Slowenien auf einen kümmerlichen Rest reduziert. Inzwischen siedeln vor allem im Süden des Landes wieder 14 Rudel. Dank eines effektiven Herdenschutzes halten sich die Schäden an Nutztieren in sehr engen Grenzen. Doch es darf auch gejagt werden.
Erstkontakt mit seiner neuen Familie, den Schafen: Zwei Wochen alt ist der Herdenschutzhundwelpe des bosnischen Rasse Tornjak. Die Neugier ist gegenseitig.
Schnuppernd begrüssen die Lämmer den kleinen Hund der bosnischen Rasse Tornjak. Er ist zwei Wochen alt, pummelig wie ein Meerschweinchen. Jetzt schliesst er, noch ganz wacklig auf seinen Beinen, erste Bekanntschaft mit den Tieren, für die er, wenn er zum kräftigen Herdenschutzhund herangewachsen ist, schon bald sein Leben riskieren und es mit Wölfen aufnehmen wird. Ein Lämmchen macht sich einen Spass daraus, ihn etwas gar kräftig anzustupsen. Er fällt hin, rappelt sich wieder auf, fällt wieder hin, bis Aleš Sedmak das voreilige Jungschaf wegschupst. Nun kann das Hündchen chnuppernd nach einer Zitze am Bauch eines der Lämmer suchen.
Die jungen Schafe sind im Stall von den erwachsenen Tieren getrennt untergebracht. Sedmak, in seinem Hauptberuf Ingenieur für die Entwicklung von Solaranlagen, hält zusammen mit seinem Bruder nebenberuflich eine 150-köpfige Schafherde und eine kleine Schar Ziegen. Sie haben sie von ihrem Vater übernommen. Schon der Grossvater war Schafhalter gewesen. Der Hof liegt am Rande des Dorfes Juršče in der Gemeinde Pivka (St. Peter in Krain) in der Region Primorska (Küstenland-Innerkrain) im Südwesten Sloweniens. Triest ist nur eine knappe Autostunde entfernt. Das waldreiche, karstige Hügelland am nördlichen Rand der dinarischen Alpen ist dünn besiedelt. Die Böden erlauben kaum mehr als eine Weidewirtschaft. Die Landwirtschaft ist in jüngerer Zeit zunehmend extensiviert worden, manche Herden sind ganzjährig auf der Weide, etwas Schutz finden sie in offenen Unterständen. Manche Bauern haben auf die Mutterkuhhaltung umgestellt, die Mehrheit bleibt bei Schafen oder Ziegen.
Ales Sedmak: Dank Herdenschutzhunden keine Angst vor dem Wolf.
Bosnische Tornjak-Hunde haben den Herdenschutz in ihren Genen.
«Bären hat es hier schon immer gegeben», sagt Sedmak. «Wer in den Wald geht, muss immer damit rechnen, einem Bären zu begegnen. Bär und Mensch kommen damit gut zurecht. Auch unsere Schafe haben kaum etwas zu befürchten». Mit den Wölfen, die sich seit einigen Jahren stark ausbreiteten, sei das anders. «Es ist in den vergangenen Jahren zu einigen Attacken auf Schafherden gekommen, Dutzende Schafe sind gerissen worden.» Sedmak entschied sich zum Schutz vor den Wölfen für Herdenschutzhunde. In Bosnien kaufte er ein zweijähriges Tornjak-Weibchen. Seither züchtet er die Hunde selbst, die Welpen verkauft er im Alter von acht Wochen an andere Schafhalter. «Diese Hunderasse wird in Bosnien seit Jahrhunderten von Schafhaltern gezüchtet. Tornjak-Hunde braucht man nicht gross auf ihre Aufgabe, Schafe zu beschützen, vorzubereiten. Sie haben es in ihrem Blut.» Entscheidend sei dabei das Alter von zwei bis acht Wochen. Dann gelte es, die jungen Hunde an die Schafe zu gewöhnen. «Wir bringen sie in dieser Zeit nur mit den Lämmern zusammen. Wie in einem Kindergarten. Wir beobachten sie intensiv und greifen ein, wenn die Hunde zu weit gehen. Beisst einer, und sei es nur im Spiel, in die Kehle eines Schafes oder ins Ohr, wird er für einige Tage aus der Herde entfernt.» Es brauche rund ein Jahr, bis man sich ganz sicher sein könne, dass den Hunden nicht ihr Jagdtrieb durchgeht. Die drei erwachsenen Herdenschutzhunde, die Tag und Nacht mit den Schafen verbringen, zeigen, wie es geht: Schnuppern, lecken, den Kopf zwischen die eng beieinander stehenden Schafe stecken oder auch nur in einer Ecke des Stalles dösen. Aber sie müssen auch allzeit bereit sein. Er habe viel Respekt vor den Wölfen, sagt Aleš Sedmak. «Sie sind wunderbare Tiere, und sie sind schlau». Ein Wolfsrudel habe eine Schafherde, die täglich auf eine von elektrischen Zäunen geschützte Weide getrieben wurde, lange beobachtet, bis sie den schwachen Punkt gefunden hätten: Die paar Minuten am frühen Morgen, wenn die Stalltüren geöffnet werden und die ersten Schafe ins Freie springen. «Dann schlugen sie in diesem unbewachten Moment zu. Mit den Herdenschutzhunden wäre das nicht passiert. Aber es braucht mindestens drei, die sich in ihren Aufgaben ergänzen». Deshalb sorge er sich nicht mehr um seine Schafe. Auch auf elektrische Schutzzäune könne er verzichten. «Auf meine Hunde ist Verlass.» Nicht so recht läuft der Verkauf der Zuchthunde. 600 Euro verrechnet Sedmak, einen Drittel der Kosten übernimmt der Staat. Dennoch sie die Nachfrage bescheiden. «Viele Tierhalter arbeiten im Nebenerwerb. Den Aufwand der Hundehaltung wollen sie sich nicht antun.»
Dokumentarfilm unbekannten Datums aus dem ehemaligen Jugoslawien: Wölfe attackieren Schafe, Herdenschutzhunde verteidigen sie - mit tödlichen Folgen für den Wolf.
Blick in die karstige Hügellandschaft im Südwesten Sloweniens. Die Wölfe sind zurückgekehrt.
Am Fusse der Kapelle Sveti Marija bei Preserje, 20 Kilometer südwestlich der slowenischen Hauptstadt Ljubljana, öffnet Janez Kržič das Stalltor. Eine 60köpfige Herde slowenischer Alpenziegen trippelt fröhlich auf die Weide, unter ihnen der Herdenschutzhund Kala. Er hat die ersten Wochen seines Lebens auf dem Hof von Aleš Sedmak verbracht, jetzt ist er erwachsen und bereit für höhere Aufgaben. Der Boarder-Collie Lira sorgt dafür, dass die Herde zusammen bleibt und sich dorthin bewegt, wo es Janez Kržič, der mit ruhiger Stimme kurze Kommandos gibt, wünscht. Zwischen Ziegen und Hunden tollen Kržič’s Kinder herum, der kleinste ist zweieinhalb, der grösste neun Jahr alt. Sie sind selbst Teil dieser Herde, Mensch und Tier bilden eine einzige grosse Familie. Dieses biblische Bild wird perfekt, als Kržič’s Frau Mirjam dazustösst, das sechs Monate alte fünfte Kind im Tragetuch. Sie bringt ihre Haltung zum Leben auf den Punkt: «Wir möchten mit Menschen und Tieren gut auskommen. Das gilt auch für die Wölfe».
Familie Kržič mit Herdenschutzhund, Treibhund, Ziegen und Schafen: ein biblisches Bild.
Kein Mensch hatte sich mehr für die abschüssigen Weiden an den Hängen der steilen Hügel interessiert. Sie wurden einst von Kartausermönchen des Klosters Bistra bei Vrhnika bewirtschaftet, bis der den Idealen der Aufklärung verpflichtete österreichische Kaiser Joseph II. 1782 dessen Aufhebung erzwang. Noch bis in die 1990er-Jahre lebte ein Priester im Pfarrhaus bei der Kirche Sveti Marija, danach vergandeten die Weiden, die Ställe und das Wohnhaus zerfielen. Auch auf den anderen sechs Kirchenhügeln breitete sich Wald aus. Weiter südlich erstrecken sich in einer allmählich gebirgiger werdenden Landschaft die Wälder des verkarsteten dinarischen Gebirges. Sie bilden über 600 Kilometer bis ins nördliche Albanien eine der grössten zusammenhängenden Waldflächen Europas. Es ist die Heimat der mehrtausendköpfigen dinarischen Wolfspopulation. Diesem grossen Bestand ist es zu verdanken, dass die Wölfe in Slowenien nie ganz verschwunden sind, auch wenn sie noch bis in die 1970er-Jahre auf staatliches Geheiss und mit Abschussprämien bejagt wurden. 1973 wurde die Jagd in den staatlichen Jagdrevieren auf etwa einem Fünftel der Fläche eingestellt, seit 1993 dürfen Wölfe nur noch im Rahmen staatlich festgelegter Quoten gejagt werden.
Blick in die Hügellandschaft Preserjes: Hier leben ein zehnköpfiges Wolfsrudel und sechs Bären.
Der Kirchenhügel Sveta Ana in der Gemeinde Preserje wird heute wieder beweidet. Im Hintergrund rechts die slowenische Hauptstadt Ljubljana.
In der Hügellandschaft Preserjes lebt ein zehnköpfiges Wolfsrudel, dazu kommen sechs Bären. Ohne Schutzmassnahmen gäbe es für die Ziegen und Schafe der Familie Kržič wenig zu lachen. Die Wölfe wären längst auf den Geschmack gekommen und würden sich regelmässig ihre Beute holen. Mirjam und Janez Eltern sind Quereinsteiger, Janez kam als Spezialist für automatisierte Glockengeläute viel herum, seine Frau ist Graphikerin. Als ihnen bei ihrer Hochzeit vor zehn Jahren ein Schaf und ein Huhn geschenkt wurde, kamen sie allmählich auf den Geschmack, hielten hobbyhalber ein paar Nutztiere, entdeckten das verlassene Pfarrhaus, erwirkten einen Miet- und Pachtvertrag und begannen, nachdem sie ein Jahr als Selbstversorger gelebt hatten, schliesslich ein neues Leben als Schaf- und Ziegenhalter. Es läuft auch wirtschaftlich gut, eben sind sie dabei, in einem verlassenen Wirtschaftsgebäude eine Käserei einzubauen und den Tierbestand weiter zu erhöhen. Die Tiere halten sie extensiv, sie werden ausschliesslich vom Gras und Heu ernährt, das auf den 30 Hektaren Weideland wächst. «Diese Rechnung geht auf, denn wir haben keine Ausgaben für Kraftfutter, die Tiere sind gesund und brauchen kaum je einen Tierarzt», erklärt Janez Kržič. Die Herde schützen sie mit 500 Meter langen, 1,7 Meter hohen elektrisch geladenen Weidezäunen, die vom slowenischen Forstdienst zur Verfügung gestellt werden. Dazu kommt der Herdenschutzhund, der schon bald Verstärkung erhalten soll. Das klappe sehr gut, der Arbeitsaufwand sei aber nicht zu unterschätzen. Einen Arbeitstag veranschlagt Kržič für das Aufstellen eines 500 Meter langen Zaunes. Er darf sich keine Fehler erlauben, der in einem Kreis aufgestellte Zaun muss am Boden gut fixiert sein. Diese geschützte Weide lasse sich dann eine Woche lang abgrasen. Und so zieht Kržič mit seiner Herde von Kirchenhügel zu Kirchenhügel, gemolken werden die Tiere mit einer mobilen Melkstation auf der Weide, nur in den Wintermonaten sind sie ab November bis April im Stall. Es ist ein intensives, arbeitsreiches Leben. Wolf und Bär haben der Familie Kržič bisher ihren Respekt gezollt und von Angriffen abgesehen.
Keinen Respekt zeigte in einem wesentlich dichter von Wölfen und Bären besiedelten Gebiet ein Wolfsrudel vor den Milchkühen von Marko Kocjančič. «Sie haben am hellichten Tag unsere Herde in nördlicher Richtung getrieben, drei zweijährige, hochträchtige Kühe von der Herde abgetrennt und über 19 Kilometer gehetzt, bis sie so erschöpft waren, dass sie zu einer leichten Beute wurden. Später schlugen sie nochmals zu und holten zwei weitere Kühe». Für seinen finanziellen Schaden ist der Biobauer, der den 156 Hektar grossen Hof mit 86 Milchkühen und 120 Jungtieren zusammen mit seinen zwei Söhnen bewirtschaftet und jährlich knapp 400'000 Kilo Milch selbst zu Joghurt, Frischmilch und Käse verarbeitet, entschädigt worden, auch wenn, wie er betont, «der tatsächliche Schaden grösser war. Die Kühe standen ja kurz vor dem Abkalben.» Damit könne er noch leben. «Aber die Ursache dieses Übels, das Wolfsrudel, streift nach wie vor durch die Gegend, ohne dass etwas unternommen wird.» Kocjančič sieht nur eine Lösung: den Abschuss. Man habe den Wölfen durch eine übermässige Bejagung des Wildes ihre Nahrungsgrundlage entzogen. «Irgend etwas müssen sie ja fressen. Die Zeche dieser falschen Politik bezahlen wir Bauern.»
Marko Kocjančič: "Die Wölfe reissen unser Vieh, weil zu viel Wild geschossen wird."
Beim slowenischen Jagdverband zeigt man sich auch unzufrieden mit den geltenden Abschussquoten insbesondere für Rothirsche. Einerseits gelte es, Verbissschäden zu verhindern, während an die Raubtiere zuwenig gedacht werde. Konflikte mit der Landwirtschaft seien vorprogrammiert, heisst es auf Anfrage. Rund 21’000 Jägerinnen und Jäger zählt das Land mit seinen zwei Millionen Einwohnern, eine im europäischen Vergleich durchschnittliche Zahl. Für den Jägerverband sind Wölfe und Bären Teil des natürlichen Ökosystems, und auch wenn die Raubtiere in direkter Konkurrenz um die Beute stünden, so stehe deren Schutz und Erhalt für die Jäger seit Jahrzehnten ausser Frage. Die Jagd ist schwierig, es ist nicht einfach, die Vorgaben, wonach vor allem Jungtiere geschossen werden sollen, zu erfüllen. Denn Alphatiere und Jungtiere lassen sich nicht unterschieden. Erwischt es ein Alphatier, löst sich das Rudel auf. Die Folgen sind kontraproduktiv. Aus Rudelwölfen werden Streuner, die wesentlich grössere Schäden anrichten können. Die Abschussquoten werden von der Regierung festgelegt. Die wichtigen Interessensgruppen, Landwirte, Umweltorganisationen und Jäger, Wissenschaftlerinnen und Fachleute aus den Ministerien äussern sich dabei in einen konsultativen Verfahren zu den Vorschlägen aus dem Umweltministerium. Die Bandbreite ist gross. Während die Umweltverbände dafür plädieren, nur als problematisch eingestufte Raubtiere abzuschiessen, setzen sich die Bauern für deutlich höhere Quoten ein. Die zehn Wölfe, die 2018 geschossen werden dürfen – prinzipiell von jedem lizenzierten Jäger – liegen in etwa in der Mitte dieser Forderungen.
Eine Wolfsspur im Schlick eines Flusses (Bild: zVg)
Ein von Wölfen gerissenes Schaf (Bild: zVg)
Wie Wölfe jagen - und Herdenschutzhunde sie bekämpfen: Ein jugoslawischer Film unbekannten Datums.
Andrej Andoljšek von der slowenischen Landwirtschaftskammer hätte die Quote bei 15 Wölfen gesehen. Mit der nun beschlossenen Zahl könne er leben. Ihm gehe es um höhere Entschädigungen für die entstandenen Schäden. Das geltende Regime, wonach für gerissene Tiere der Schlachtwert vergütet werde, Ausnahmen, wie im Fall eines von Wölfen getöteten Rennpferdes, aber möglich seien, sei soweit in Ordnung. «Doch alle indirekten Schäden und ein grosser Teil des zusätzlichen Aufwandes für den Wolfsschutz bleiben unberücksichtigt. Die Bauern sind nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Sie verlangen, dass sämtliche Schaden vom Staat gedeckt sind. Er ist es schliesslich auch, der die Wölfe als so wichtig erachtet, dass die Landwirte Schäden davon tragen.» Sehr realistisch ist diese Forderung nicht, denn längst sind Wölfe und Bären in der Mitte der slowenischen Gesellschaft angekommen. Die auf Wildtiere spezialisierte Tierärztin Aleksandra Majič Skrbinšek von der Universität Ljubljana hat sich im Rahmen ihrer Forschung intensiv mit der Haltung der slowenischen Bevölkerung zu den grossen Raubtieren im Land beschäftigt. Das Ergebnis ist unmissverständlich: Sowohl in den Städten als auch auf dem Land sind Wölfe und Bären von einer breiten Mehrheit akzeptiert, Zweifel oder Ablehnung kommen vor allem aus der Landwirtschaft, etwas weniger von Jägerinnen und Jägern. Auch aus diesem Grund legen die landwirtschaftlichen Verbände ihren Schwerpunkt auf höhere Entschädigungen. Sie engagieren sich aber zum Leidwesen des Forstingenieurs Rok Černe, beim slowenischen Forstdienst zuständig für Grossraubtiere, weit weniger für die Aufklärungs- und Beratungsarbeit. «Wir hatten gehofft, dass wir diese Arbeit nach und nach in die Hände der Fachverbände legen könnten. Doch dafür ist es noch zu früh.» Dabei, so Černe, «haben wir von 2010 bis 2013 im Rahmen eines EU-Projektes herausgefunden, dass es sehr wirksame Massnahmen gibt, um Schäden an Nutztieren durch Wölfe oder Bären um bis zu 90 Prozent zu reduzieren: 1,7 Meter hohe, elektrisch geladene, mobile Zäune und Schutzhunde. Abschüsse können nötig werden, wenn Wölfe die vom Menschen gesetzten Grenzen wiederholt überschreiten. Doch das ist sehr selten geworden, etwa wenn Wölfe sich auf die Jagd auf Rinder spezialisieren. 12 Rinder, mehrheitlich Jungtiere, sind 2017 gerissen worden. Mit Schafen und Ziegen haben wir heute kaum mehr Probleme. Der Herdenschutz funktioniert sehr gut.» Die Probleme begännen, wenn Wölfe ihre Angst vor dem Menschen verlieren. Abschüsse von Wölfen aus dem Rudel heraus, aber auch von Einzeltieren, hätten sich gut bewährt. «Die Entfernung von ganzen Rudeln bringt keinen weiteren Erfolg. Wir hatten einen Fall, bei dem ein Rudel regelmässig Schafe aus einer Herde holte. Als ein einzelnes Tier aus diesem Rudel geschossen wurde, hörte der Spuk sofort auf.» Doch eine absolute Sicherheit werde es nie geben. Deshalb sei das Monitoring der Wolfspopulation auch zentral für das künftige Management. «Wir wissen heute sehr genau Bescheid über deren Entwicklung und können auch die Zahl der Rudel und der Wölfe mit hoher Genauigkeit ermitteln.» 14 Rudel bevölkern danach die slowenischen Waldgebiete primär südlich der Hauptstadt Ljubljana, einige von ihnen pendeln dabei zwischen Kroatien und Slowenien. Im Norden des Landes sind die Wölfe erst dabei, sich auszubreiten. Je nach Zählweise kommt man dann auf etwa 75 Wölfe, die entweder in Slowenien oder im slowenisch-kroatischen Grenzgebiet leben.
Rok Černe: "Es gibt sehr wirksame Massnahmen, um Nutztiere vor Wölfen und Bären zu schützen."
Aus wissenschaftlicher Sicht sei es nicht nötig, den Bestand zu regulieren, sagt Aleksandra Majič Skrbinšek. «Das machen die Wölfe unter sich aus. Sie verteidigen ihre Reviere vehement gegen eindringende Artgenossen und töten diese notfalls auch.» Zudem habe es im Norden des Landes noch genügend Platz für den Wolfsnachwuchs, um eigene Rudel zu begründen. Die regulären Abschüsse dienen für Skrbinšek primär dem Bedürfnis des Menschen nach Einflussnahme. Das sei verständlich, auch wenn der Nutzen gering bis nicht vorhanden sei. Denn es sei immer noch der Mensch, der über das Schicksal der Wölfe entscheide. «Und legale Abschüsse tragen wesentlich dazu bei, dass es in Slowenien kaum mehr zu Wilderei kommt. Dieser Pragmatismus hat sich bewährt. « Und solange die Abschussquoten die Erhaltung der Art nicht gefährdeten, sei dagegen wenig einzuwenden.
Am Fuss einer über 500-jährigen Tanne in einem Wald nahe der Ortschaft Rajhenav (Reichenau) in der Gemeinde Kočevje (Gottschee) im Südosten Sloweniens sucht der Viehzüchter Alojz Brdnik im Schnee nach Wolfsspuren. Vergeblich. «Es taut. Das verwischt die meisten Tierspuren schnell». In der Nähe einer vor Jahrzehnten aufgegebenen Sägerei findet sich schliesslich am Strassenrand eine Bärenspur. Die mächtigen Tatzenabdrücke sind unverkennbar. «Wir haben hier auf relativ engem Raum ungefähr 40 Bären und drei Wolfsrudel». Wolfsspuren fänden sich dennoch selten. «Ihnen ist es hier zu lärmig. Sie ziehen ruhigere Waldgebiete östlich von hier vor.» Ganz spurenlos geht das Treiben der Wölfe aber am Hof von Brdnik nicht vorbei. Aus der Mitte seiner Kuhherde rissen Wölfe ein Kalb. Dessen Reste fanden sich in einer Mulde in der Nähe der Weide erst nach der Schneeschmelze. Brdnik züchtet Limousin-Rinder, die Zuchttiere verkauft er in ganz Slowenien. Er sei der einzige Einwohner des Ortes und deshalb der naturgemässe Bürgermeister, scherzt er. Tatsächlich zählte Rajhenav einmal 280 Seelen. Es waren die Nachfahren deutscher Siedler aus Mecklenburg-Vorpommern, die im 14. Jahrhundert nach einer verlorenen Schlacht zur Auswanderung gezwungen worden waren. Im «Gottscheer Land» lebten in 171 Dörfern während 600 Jahren bis 1941 15'000 Deutschstämmige, fleissig und arbeitsam, arm und traditionsbewusst. Als deutsche Truppen mit italienischer Unterstützung im April 1941 das damalige jugoslawische Königreich eroberten, hatten die Diktatoren Hitler und Mussolini Slowenien unter sich aufgeteilt. Die Gebiete nördlich des Flusses Save wurden vom deutschen Reich einverleibt, die südliche Hälfte des Landes mit der Hauptstadt Ljbuljana rissen die Italiener an sich. In einem absurden, von einer Propagandatruppe vor Ort orchestrierten Aktion wurden die Gottscheer Deutschen Ende 1941 «heim ins Reich» geholt. Bis Kriegsende lebten sie im nördlichen Slowenien (der damaligen «Untersteiermark» in Häusern, aus denen Slowenen deportiert worden waren. Danach wurden sie aus dem wieder erstandenen, nun sozialistischen Jugoslawien vertrieben. Wer bleiben wollte, den erwartete der Tod. Etwa 5000 Menschen, ein Viertel der ursprünglichen Bevölkerung, unter ihnen nur noch einige hundert Gottscheer, waren nach der Umsiedlung im waldigen Gotscheer Land zurückgeblieben. Ihr rund 860 Quadratkilometer grosses Siedlungsgebiet wurde zum Rückzugsgebiet slowenischer Partisanen, denen sich auch einige Dutzend Deutsche anschlossen. Über 100 Dörfer wurden von italienischen Truppen vollständig zerstört, der von den Italienern gehaltene Hauptort Kočevje (Gottschee) war nach dem Krieg praktisch unbewohnbar. In den 1950er-Jahren wurden weitere Spuren deutscher Besiedlung getilgt, ganze Dörfer, Kirchen und Friedhöfe verschwanden von der Bildfläche. Zu diesen Dörfern zählt auch Reichenau. Nur ein Wirtschafts- und ein Hofgebäude blieben erhalten, die Weiden wurden in den folgenden Jahrzehnten nur noch extensiv bewirtschaftet. Als Alojz Brdnik Reichenau auf der Suche nach einem Hof entdeckte, waren die Gebäude verlassen, das Land gehörte den Wölfen und Bären. Heute bewirtschaftet er einen 170 Hektaren grossen Betrieb mit weiteren 100 Hektar zur Heugewinnung in der Einsamkeit, die nächste Siedlung ist 18 Kilometer entfernt. Weiden und Wald kennt er längst so gut wie seine Hosentasche. Die Wölfe bleiben auf Distanz. In 22 Jahren hat er keine zu Gesicht bekommen.
Der ehemals von 280 "Gottscheer Deutschen" bewohnte Flecken Reichenau. Heute werden hier Limousin-Rinder gezüchtet.
Geschrieben von Urs Fitze (Text) und Andreas Butz (Bilder)
Der Wolf mischt die Walliser Karten neu
Die Wölfe sind zurück im Kanton Wallis, seit 2016 regiert am Augsthorn ein Wolfsrudel. Sie beanspruchen ihren Platz in einem Gefüge, das sich, ohne Wolf, seit dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hat. Nun beschleunigen sie den Strukturwandel.
Das Schwarznasenschaf: Die Züchter lieben es, der Wolf bedroht es.
Die Schafblattjini ist ein Traum von einer Alp am Fuss des Hohstocks (3226 m) mit seinen zerfurchten, einen Halbkreis bildenden, senkrecht abfallenden Felswänden. Der Schnee hält sich Mitte Juli noch bis zu den ersten Weiden auf 2'700 Meter. Vom Gletscher, der, wie sich die Alten erinnern, einst vom Gipfel heruntergekrochen war, ist nichts übrig geblieben. Eine Gruppe Schwarznasenschafe hat es sich im Schatten eines Felsblockes gemütlich gemacht. Den zotteligen Tieren ist es am späten Nachmittag bei 20 Grad noch zu heiss, um sich zu bewegen. Erst zur Abendbrotzeit werden sie grasen. Rund 450 Schafe verbringen den Sommer auf den stotzigen Weiden hoch über Belalp, vom Rand der westlichen Krete haben sie einen herrlichen Rundblick auf den Aletschgletscher, wenden sie sich gegen Süden, rücken das Matterhorn und die Monte Rosa – Gruppe ins Blickfeld. Es sind fast ausschliesslich Schwarznasenschafe, die sich in kleinen und mittleren Gruppen aufteilen. Es ist ihre gewohnte Herde, denn sie gehören Hobbyschafzüchtern, die in der Regel kaum mehr als zwei, drei Dutzend dieser schönen Tiere halten. Zu grossen Schafherden lassen sie sich nur unwillig zusammentreiben, es braucht mehrere Wochen, bis sie sich daran gewöhnt haben. Lieber gehen sich die kleinen Gruppen aus dem Weg. Auf der Schafblattjini sind sie weitgehend auf sich allein gestellt, nur ab und zu schaut einer der Halter zum Rechten, bringt etwas Kraftfutter und prüft den Bestand.
Auf der Rosswald - Steinenalpe Alp am Gegenhang oberhalb von Brig kamen am Vortag zwei Schafe zu Tode, ihre Körper zeigten Frassspuren. Die 700köpfige Herde mit Schwarznasenschafen war behirtet, zwei Boardercollies unterstützten den Hirten beim Treiben der Herde. Dieser verständigte den Wildhüter, der sich noch am selben Tag ein Bild der Lage machte. Wölfe galten als die Tatverdächtigen. Schliesslich lebt seit zwei Jahren knapp 25 Kilometer in Richtung Westen, am Augstbordhorn, ein Wolfsrudel, das mit diversen Schafsrissen in ungeschützen Herden auf sich aufmerksam machte. Inzwischen ist die Lage dank Herdeschutzmassnahmen entspannter. Wölfe sind mobil. Für sie ist eine Distanz von 25 Kilometern, und wenn sie dabei Gebirgszüge überwinden müssen, nichts Besonderes. Vor allem junge Wölfe legen auf ihren Erkundungstouren noch weit längere Wege zurück, während Rudel mit Jungtieren weitgehend standorttreu sind, solange es genügend Nahrung für sie gibt. Die Boardercollies, klassische Hirtenhunde, hätten einen dieser Wolfsstreuner auf der Rosswald-Steinenalpe kaum von einer Attacke abgehalten, zumal die Herde über ein weites Gebiet verstreut war. Schon ging die Rede vom Schadenersatz um, eines der Schafe, ein Zuchttier, habe einen Wert von 2000 Franken, hiess es. Der Wildhüter gab schliesslich Entwarnung. Die Schafe waren eines natürlichen Todes gestorben, Kolkraben hatten im Bereich der Schulterblätter ein für sie typisches Loch in die toten Körper gepickt, um ans Fleisch des Aases zu kommen.
Weide mit Aussicht: Schwarznasenschafe auf der Alp Schafblattjini.
Solche «Abgänge» sind auf den Schafweiden in den Schweizer Alpen gar nicht so selten. Rund 4000 Schafe überleben den Alpsommer nicht. Das entspricht etwa zwei Prozent des Bestandes. Die Zahl der Wolfsrisse bewegt sich – mit starken Schwankungen über die Jahre – um die 200. Eine Studie im Rahmen des Verbundprojektes Alpfutur (www.alpfutur.ch/src/2012_schafalp_abgaenge.pdf) hat vor sechs Jahren gezeigt, dass es primär gesundheitliche Probleme und Krankheiten sind, die Schafe auf den Alpen dahinraffen. In solchen Fällen greifen nur kostspielige Versicherungen. In der Regel verzichten die Schafhalter auf diesen Versicherungsschutz und belassen es bei einer Elementarschadensversicherung, die nur bei den deutlich selteneren Blitzschlägen oder Lawinenabgängen zahlt. Bei Wolfsrissen ist das anders. Hier kommen die Entschädigungen aus staatlichen Schatullen, bis zu 1600 Franken werden vergütet, vorausgesetzt, es handelt sich nachweislich um einen Wolf. Aus dieser Warte betrachtet scheint das Problem mit den Wölfen überschaubar zu sein, zumal es auch für den Herdenschutz finanzielle Hilfen gibt, die, je nach Betrachtungsweise und Interessenslage, den zusätzlichen Aufwand weitgehend oder teilweise decken.
Doch das eigentliche Problem geht wesentlich tiefer. Und es ist der ins Wallis zurückgekehrte Wolf, der, ungefragt und oft unerwünscht, diese Probleme ans Tageslicht bringt. Ihn kümmert die Geschichte dieses Bergtales nicht, auch der strukturelle Wandel in der Landwirtschaft ist ihm egal, ebenso wie der wirtschaftliche, der aus hart arbeitenden, am Existenzminimum lebenden Bergbauern Fachangestellte in Industrie- und Dienstleistungsbetrieben im Tal gemacht hat. Sie tragen das bäuerliche Erbe ihrer Mütter und Grossväter in ihren Herzen, aber ihren Lebensunterhalt verdienen sie längst auf eine andere Weise. Das macht sie zu Romantikern ihrer selbst, und manche von ihnen blind für den Wandel. Die Heger des Wildes, die Jäger, haben den Wolf ausgerottet und müssen ihn nun, oft zähneknirschend, als Beute-Konkurrent akzeptieren. Denn er ist, spätestens mit der Gründung des ersten Walliser Rudels im Jahr 2016, gekommen, um zu bleiben, zwei Jahrzehnte nach den ersten Sichtungen der aus dem benachbarten Aostatal einwandernden Jungwölfe. Die Heger des Waldes, die Förster, kämpfen in einem Gebirgskanton, dessen Wälder fast zu zwei Drittel Schutzwälder sind, um den für den langfristigen Erhalt so wichtigen Baumnachwuchs, namentlich die Weisstanne, dem das Wild die Knospen wegfrisst, was deren Entwicklung erheblich behindert bis verunmöglicht.
Förster, Jäger und Vater eines Schafzüchters: Drei Seelen wohnen in Christian Thelers Brust.
Diese drei Seelen trägt Christian Theler in seiner Brust. Er ist Revierförster im Forst Massa bei Naters mit 2125 Hektaren Wald, passionierter Jäger und Vater eines Sohnes, der von seinem Grossvater mütterlicherseits eine Herde Schwarznasenschafe übernommen hat. Und diese drei Seelen stehen zum Wolf in einem jeweils ganz anderen Verhältnis. «Als Förster begrüsse ich den Wolf, der seinen Beitrag leistet zur Regulierung der teils sehr hohen Wildbestände. Es wird aber noch dauern, bis sich das eingependelt hat. Aktuell weicht das Wild dem Wolf noch aus. Das kann dann lokal zu sogar höherem Wildverbiss führen. Als Jäger arrangiere ich mich mit dem Wolf. Er beansprucht einen Teil der Beute. Das akzeptiere ich. Uns Jäger braucht es aber weiterhin zur gezielten Regulation des Wildes. Und als Angehöriger eines Schafhalters blutet auch mir das Herz, wenn eines dieser schönen Schwarznasenschafe vom Wolf gerissen wird. Erwischt es ein wichtiges Zuchttier, kann das eine jahrelange Aufbauarbeit zunichte machen. Das ist dann auch finanziell nicht wiedergutzumachen, vom emotionalen Verlust ganz zu schweigen. Mir liegt auch diese kleinräumige, grossartige Kulturlandschaft im Wallis sehr am Herzen. Die Schafhalter leisten hier, indem sie die oft extrem steilen Weiden weiter bewirtschaften, einen sehr wichtigen Beitrag. Sollten sie damit aufhören, wird es sehr schwer, deren Verbuschung und Verwaldung aufzuhalten. Die Artenvielfalt würde stark abnehmen.»
Niemand weiss, wann die Schwarznasenschafe auf der Alp Schafblattjini erstmals nach vielen Jahrzehnten wieder ungebetenen Besuch vom Wolf erhalten werden. Aber allen ist klar: Es ist nur eine Frage der Zeit. Der Wolf mischt sich in ein erst seit drei Menschen-Generationen neu gewachsenes Gefüge und beansprucht wieder seinen Platz, dem man ihm genommen hatte. Vielleicht wird man später einmal von einer Zeit des Übergangs sprechen. Die Grosseltern von Christian Thelers Frau Myriam hatten noch einen Bergbauernbetrieb bewirtschaftet, zu den Kühen gesellten sich eine kleine Ziegenherde und eine Handvoll Schafe, deren Wolle noch von Hand gesponnen wurde und deren Fleisch eine willkommene Nahrungsergänzung im Winter war. Diese Subsistenzlandwirtschaft verschwand nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach, als sich am Talgrund grosse Industriebetriebe wie das Chemiewerk Lonza in Visp ansiedelten und die Bauern zu Hunderten von ihren Höfen in die Werkhallen lockte. Aus Vollerwerbs- wurden Nebenerwerbsbauern, viele gaben die arbeitsintensive Haltung des Rindviehs auf und wechselten zur extensiven Schafhaltung. Sie entflohen damit auch der Armut, die im 19. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre Zehntausende zur Auswanderung gezwungen hatte. Einer von ihnen ist Art Furrer, der, aus einer mausarmen Familie stammend, deren einzige Fleischquelle gewildertes Wild war, 1959 als 22-jähriger dem Wallis den Rücken kehrte, in den USA Karriere als Ski- und TV-Star machte und 1973 zurückkam, um auf der Riederalp am Aletschgletscher ein Hotelimperium zu begründen. Der Tourismus setzt heute im Wallis rund ein Drittel der Beschäftigen ins Brot. Viele kommen wegen der Schönheit der abwechslungsreichen Kulturlandschaft zwischen Berg und Tal, für deren Erhalt viele Bäuerinnen und Bauern sorgen, die im Hauptberuf im Tourismus, der Verwaltung oder der Industrie tätig sind. Um diese über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft zu bewahren, wendet der Staat grosse Summen auf – schweizweit sind es in den Berggebieten rund 1,4 Milliarden Franken –, um die Bauern für ihren Einsatz als Landschaftspfleger zu entschädigen. Davon profitieren auch die Nebenerwerbsbauern, die oberhalb von Blatten die steilen Wiesen mit einer Maschine mähen, das Heu zusammenrechen und, in waghalsiger Fahrt, mit dem Ladewagen aufladen. Es ist ein Familientag, an dem auch viele Freunde mittun, um das Heu rechtzeitig einzubringen. Im Herbst werden dann nochmals die Schafe darauf weiden. Ohne Heuen und Grasen wäre hier längst der Wald zurückgekehrt, den vor Jahrhunderten die ersten Siedler gerodet hatten. Jetzt tut er es kleinen Schritten, dort, wo es den Bauern zu aufwendig wird. Zum Beispiel an einem spitzen Grat etwas weiter oben, wo nur mit der Sense gearbeitet werden könnte. Noch blüht hier die seltene Graslilie. Doch der Wald naht, Teile der einstigen Weide sind schon bewachsen, und auch direkt am Grat haben es sich die ersten Jungbäume bequem eingerichtet. Diese Verwaldung trifft auch die vielen Waldweiden im Wallis. Wo einst das Vieh graste und für Licht im Dunkel der Nadelwälder sorgte, breitet sich heute junger Bergwald aus.
Viel Handarbeit erfordert das Heuen in den steilen Weiden des Wallis.
Auch Myriam Thelers Eltern hatten 1976 auf Schafhaltung umgestellt, als ihrem Vater als Nebenerwerbsbauern die Kuhhaltung zuviel wurde. Diese 30köpfige Schafherde hat nun ihr Sohn Elia übernommen. Der 18-jährige pflegt sein Hobby mit grosser Leidenschaft. Er tritt sein Erbe unter ganz anderen Voraussetzungen an. Denn aus den Nutztieren von einst sind Haustiere geworden, zu denen man eine ähnlich persönliche Beziehung pflegt wie zu Hund und Katze. Das zeigt sich an der Wolle, aus der einst Socken und wärmende Westen gefertigt worden waren. Heute ist sie wertlos und fristet allenfalls als Gebäudeisolation ein trauriges Dasein. Doch die Hingabe, mit der diese bis zu zehn Zentimeter langen Haare gepflegt werden, steht im umgekehrten Verhältnis zum finanziellen Nutzen. Der Ertrag ist emotional, es geht um Schönheit, Anmut und Sozialprestige. Denn wenn im Herbst nach der Alpabfahrt an grossen Schafschauen die schönsten Schwarznasenschafe prämiert werden, sind, ähnlich wie beim Kaninchenzüchterverein, die vergebenen Jurypunkte der Lohn für die getane züchterische und tierpflegerische Arbeit. Der der Not gehorchende Pragmatismus der Vorfahren ist einem Schönheits-Ideal gewichen. Zweifellos. Sie sind schön anzusehen, die Schwarznasenschafe. Doch man muss sich schon auch fragen, welchen Sinn es machen kann, den gesamten Kopf dieser Tiere in einen Wollknäuel zu hüllen, aus dem die Tiere keinen freien Blick mehr haben. Die Schönheit liegt hier nur im Auge des Betrachters. Die zwei Walliser Landschafe, die Myriam Theler ihrem Mann Christian geschenkt hat, sind dagegen nur hässliche Entlein, die Nachfahren jener Schafe, die einst den Bergbauern zu einer prekären Existenzsicherung verholfen hatten. Er mag sie trotzdem. Doch man sollte den leicht ins Absurde driftenden Schönheitswettbewerb rund um die Schwarznasenschafe nicht isoliert betrachten. Für die heutigen Tierhalter geht es auch um das Kulturerbe ihrer Vorfahren, das sie, in veränderter Form, weiter pflegen. Wie lange sie das noch tun werden, muss offen bleiben. Ein Hobby ist ein Hobby. Und das kann sich ändern. Für Christian Theler beschleunigt der Wolf diesen Kulturwandel, der durchaus auch dazu führen könnte, dass die Landwirtschaft im Wallis weiter intensiviert und dort, wo die Plackerei zu gross ist, aufgegeben wird. Der Wolf wäre dann unangefochtener König in dieser vom Wald dominierten Landschaft. Theler träumt von einem Wolfs-Management, das, ähnlich den Urinspritzern, mit denen Wölfe ihr Revier markieren, eine strikte, unsichtbare Linie zieht, um den Wolf, notfalls mit der Waffe in der Hand, in die Schranken zu weisen. Er weiss, wie schwierig das sein wird in dieser reich strukturieren Landschaft ohne klare Grenzen zwischen Wald und Wiese. Am Herdenschutz und an der Behirtung führt kein Weg vorbei. Die schon heute in Genossenschaften organisierten Schafhalter müssen sich organisieren, was ansatzweise schon geschieht. Und sie müssten, wie einst beim Geissenpeter, ihre kleinen Herden mit anderen zusammenlegen, um sie einfacher hüten und schützen zu lassen. Das würde einiges an Mehrarbeit mit sich bringen und möglicherweise einen anderen Strukturwandel bedeuten: Die Professionalisierung der Schafzucht mit grossen, vielhundertköpfigen Herden und Haltern, deren Existenz von derem Wohl und Weh abhängt. Der Schutz vor dem Wolf wäre zumindest einfacher zu bewerkstelligen.
Kreuz und quer liegen grau gewordene Föhrenstämme übereinander auf einer Waldlichtung auf einem Grat hoch über Bister. Über extrem steiles Gelände folgt man beim Aufstieg durch den Bawald den Wildwechseln. Die Stämme sind 28-jähriges Sturmholz. Der Orkan Vivian hat sie im Februar 1990 gefällt und damit auch Licht in den dichten Wald gebracht. Es ist willkommenes Licht für den Baumnachwuchs. Doch der tut sich schwer. Noch nach zehn, fünfzehn Jahren sind manche jungen Tännchen nur wenige Zentimeter hoch, so setzen ihnen die Hirsche zu. Die Mitarbeiter um Christian Theler haben das Totholz deshalb so geschichtet, dass sich die jungen Bäume darunter ungestört entwickeln können. Die Hirsche machen einen Bogen darum. Es sei ihnen zu riskant, sich in dieses igelartige Geflecht zu wagen, sagt Theler. «Sie müssen vorsichtig sein und sind deshalb bedacht, immer einen Fluchtweg offen zu haben. Ihre Feinde, das sind die Jäger und die Wölfe.» Der lichte Grat erlaube ihnen, diese frühzeitig zu erkennen. Ein paar Schritte bergaufwärts hat sich in einem Gehege (Wildkontrollgatter) eine prächtige Baumvielfalt entwickelt, sogar Kirschen und Edelkastanien finden sich auf 1200 Metern Höhe. Rundherum findet sich fast nur vermoderndes Totholz. Die Hirsche verhindern jeden Baumnachwuchs. Das natürliche Gleichgewicht ist gestört. Der Wolf werde auf lange Sicht dazu beitragen, dass dieses wieder hergestellt wird. «Bis dahin werden die Jäger für die Regulation des Wildes wesentlich wichtiger sein.» Etwas unterhalb des aussichtsreichen Grates führt ein Wildwechsel parallel zum Hang, um sich kurz darauf in einem grünen Dickicht zu verlieren. Auch die Jäger orientieren sich daran. Die Wildbestände sind hoch, beim bedeutendsten Wild, dem Hirsch, viel zu hoch. Das hat zum einen mit der Aufgabe grosser landwirtschaftlicher Nutzflächen und der Ausbreitung der Wälder zu tun – im Wallis hat sich die Waldfläche seit 1985 um 15 Prozent vergrössert -, zum andern mit der staatlich geförderten Ausrottung der Beutegreifer, vor allem Bär und Wolf, die wegen ihrer Nutzviehrisse verteufelt wurden, primär aber als Konkurrenten ums Wild unschädlich gemacht werden sollten. Auch der teilweise geringe Jagddruck spielt eine Rolle. Der integrale Schutz dieser Raubtiere kam in der Schweiz viel zu spät – es gab sie nicht mehr. Jetzt, wo sie wieder im Land sind, gilt es, mit ihnen ein Auskommen zu finden. Die Jäger sind grossmehrheitlich für den Wolf, weil sie sich bewusst sind, dass sie ihn nicht wieder loswerden können, weil sie aber auch realisiert haben, dass eine Annäherung an das natürliche Gleichgewicht allemal besser ist als das ständige Löcher stopfen durch den Menschen mit Jagdquoten, dem Schutz des Jungwaldes und dem anhaltenden, kaum aufzuhaltenden Rückzug der Landwirtschaft in den Alpen.
So, wie der Wolf sichtbarer macht, was unter der Oberfläche schon lange brodelt, so wird es der Mensch sein, dem es obliegt, ihm den ihm gebührenden Platz einzuräumen. Es sieht gar nicht so schlecht aus.
Neuer Erklärungsversuch zum Wolf
Mit «Die Rückkehr der Wölfe» legt der Dokumentarfilmer Thomas Horat seinen Fokus weniger auf das Raubtier als den Menschen, dem der Wolf mal als Freund, mal als Feind erscheint. Das weckt Verständnis für beide Seiten. Der grundsätzlichen Frage nach unserem Naturbild weicht Horat aus. Der Film läuft in Schweizer Kinos.
In Bulgarien gibt sich ein Berufskollege wesentlich gelassener. Er kennt die Wölfe, die nie aus dieser abgelegenen Bergregion verschwunden sind, er respektiert sie, er schützt seine Nutztiere mit Hunden. Und wenn die Wölfe sich doch mal ein Schaf holen, dann zeigt er Verständnis. Der Wolf müsse auch leben.
In Thomas Horats Dokumentarfilm “Die Rückkehr der Wölfe» stehen Menschen im Mittelpunkt, denen der Wolf mal als Freund, mal als Feind erscheint. Er lässt sie reden, zeigt sie in ihrem Umfeld, und er verzichtet gänzlich auf die Kommentierung. Das verleiht dem Film eine wohltuende, angemessene Distanz, und es schafft den Raum für eine vertiefte Auseinandersetzung. Denn es geht nur vordergründig um den Wolf und seine Existenzberechtigung. Es geht um den Menschen und sein sich wandelndes Bild von der Natur. Wo der Wolf als Nahrungskonkurrent bis weit ins 20. Jahrhundert mit staatlicher Förderung verteufelt und ausgerottet worden war, ist er inzwischen staatlich geschützt. Die Fortschrittlichen von damals sind die Zurückgebliebenen von heute.
Die Auswahl der Protagonistinnen und Protagonisten, die im Film in zu grosser Zahl auftreten, als dass ein vertiefter Dialog möglich wäre, ist für diese Auseinandersetzung leider etwas einseitig. Es dominieren die Wolfsversteherinnen und – erklärer. Kaum jemand mag sich ernsthaft mit jenen auseinandersetzen, die skeptisch sind oder schlicht Angst haben. Wichtige Stimmen in diesem Konzert, namentlich aus Jagd und Forstwirtschaft, gehen gänzlich unter. So zeigt der Film schliesslich doch jenes zur Verklärung neigende Naturbild, wie es in vielen Tierdokus vermittelt wird, in denen der Mensch schon gar nicht vorkommt. Dabei geht es beim Wolf wie bei anderen zurückkehrenden Raubtieren wie Luchs oder Bär nicht um den Platz in der Natur-, sondern in der vom Menschen massgeblich geprägten Kulturlandschaft. Der Wolf ist derselbe geblieben, der Mensch ist ein anderer geworden – und muss sich damit zurechtfinden.