„Was haben Sie gesagt?“ Der junge Arzt hielt sein Ohr ganz nahe an den Mund der sterbenden Frau, die, seinem medizinischen Fachverstand und den tiefen Furchen in ihrem Gesicht nach, mindestens hundert Jahre alt sein musste. Erstaunt hatte der Arzt bei der Untersuchung allerdings ihre kräftigen Beinmuskeln bewundert. „Ich bin die Clara“, hauchte die Frau, „die Freundin von der Heidi, und verrate ihnen ein Geheimnis: Es gibt uns wirklich, erst gestern habe ich noch mit der Heidi telefoniert, es geht ihr gut, sie wohnt noch auf der Alp, würden Sie ihr und dem Peter wohl Lebewohl von mir sagen? Ich mag jetzt nimmer telefonieren.“ Neben dem Bett auf dem Jugendstil-Tischchen lag ein nagelneues i-Phone, wie der Arzt selbst eines besaß. Der junge Arzt, Jahrgang 1980, verstand kein Wort, doch er wackelte freundlich mit dem Kopf. „Hier“, sprach die Frau weiter, und zeigte auf eine barock verzierte Schatulle gleich neben dem i-Phone, „die schenk ich Ihnen. Für Ihre Kinder.“ Der Arzt nickte wieder, berührte kurz die Schatulle und verschwieg, dass er keine Kinder hatte. Das interessierte die Sterbende sicherlich nicht mehr. „Den Rollstuhl in der Küche können Sie auch gerne haben“, sagte die alte Frau jetzt. „Haben Sie Schmerzen?“ erkundigte sich der junge Arzt. Die Alte kicherte, was sich erstaunlich kindlich anhörte, dann schloss sie die Augen, und ihre Hand, die er in der seinen gehalten hatte, erschlaffte. Die Frau war tot. Der Arzt überprüfte alle Funktionen, sah auf die Uhr, schrieb einen Totenschein für den 15. April 2010 – 16.43 Uhr aus, und benachrichtigte das Bestattungsinstitut – Angehörige gab es, soweit er informiert war, keine mehr. Außer dieser Heidi und einem gewissen Peter vielleicht. Neugierig sah er in die Schatulle – sie war voller alter, vergilbter Fotos, zwei kleine Mädchen,das eine hatte blonde geflochtene Zöpfe und winkte, das andere, dunkelhaarige Mädchen saß im Rollstuhl, ein Junge von Ziegen umringt, der die Zunge rausstreckte, ein weißbärtiger alter Mann und eine vornehm wirkende Dame, die meisten Aufnahmen vor einer Berghütte, auf einer Bergwiese, dann die Kinder in einem pompös ausgestatteten Zimmer, schließlich das Mädchen mit dem Rollstuhl ohne Rollstuhl und stehend – der Arzt konnte sich keinen Reim darauf machen. Die Schatulle ließ er stehen. In der Küche fand er tatsächlich einen Rollstuhl, es war ein Kinderrollstuhl aus dem vorletzten Jahrhundert, der höchstens noch Raritätswert besaß – es war wohl der von dem Foto – und auch den ließ er in dem nun verwaisten Haus in der Frankfurter Innenstadt zurück.

Am Wochenende telefonierte der junge Arzt mit seinem alten Freund Ekki, der in Zürich als Anwalt für Erbangelegenheiten arbeitete. Die Sache mit der Verstorbenen ging ihm doch etwas nach, und er bereute schon, dass er Schatulle und Rollstuhl hatte stehen lassen. Das erschien ihm jetzt plötzlich respektlos gegenüber der alten Dame. Von Ekki wollte er nun wissen, ob es eine legale Möglichkeit gäbe, doch noch an die Schatulle zu kommen. Ekki spitzte die Ohren. „Mensch, kennst du denn nicht die Heidi-Geschichte?“, fragt er verblüfft. Mit der Schatulle sei es allerdings vorbei, die könne er vergessen, das sage er ihm als Jurist. Abends in der Strandbar am Limmatufer berichtete Ekki seinem Freund Urs, der für die Sonntagszeitung schrieb, von der Sache. Der rief gleich seinen Chefredaktor an. Der erzählte es beim Apéro seiner Frau, die ein Verhältnis mit dem Felix von der Weltwoche hatte – was>der Chefredaktor nicht wusste. Zugegeben, die Geschichte war vage und leider konnte man die Schatulle ja nun nicht mehr einsehen, und niemand konnte später sagen, wie auch noch der alte Jager vom Tagi, der Escher Piet von der Drehscheibe Schweiz und der Sprüngli Lucasg vom Blick an die Heidi-Geschichte gekommen waren. Nur die Brenner Charlotte von der Zürcher Zeitung, ein alter Hase, die schon beim Stern in Hamburg gearbeitet hatte, schüttelte genervt den Kopf über die Heidi-lebt-Story: so ein Schmarren – sie konnte sich noch gut an die vermeintlichen Hitlertagebücher erinnern. Außerdem musste das Heidi nach ihrer Rechnung jetzt mindestens 140 Jahre alt sein. Schmunzelnd wandte sich Charlotte wieder handfesteren Dingen zu.

In der ersten Maiwoche war der Gastwirt der Pension Heidihof im kleinen Dorf Maienfeld recht zufrieden – fünf Buchungen für durchgehend vierzehn Tage – das war für Anfang Mai nicht übel. Und allesamt Zeitungsleute, die Redaktionssekretärinnen hatten gebucht. Vielleicht ein Journalistenkongress? In Maienfeld? Unwahrscheinlich. Der Wirt konnte sich keinen rechten Reim darauf machen, es war ihm aber auch egal – diese Zeitungsfritzen tranken meistens gut und gerne, er füllte die Minibars in den Zimmern großzügig, auch mit den harten Sachen, und stockte seinen Weinvorrat ordentlich auf. Um diese Zeit gab es sonst ja kaum Gäste – zum Skisport war zuwenig, zum Wandern noch zuviel Schnee. Deutsche Touristen mit Kindern waren meist da, die das Heidi-Museum besuchten und, die Taschen mit Heidi-Souvenirs vollgestopft, bald wieder abreisten. Die fünf Journalisten reisten an drei aufeinanderfolgenden Tagen an. Für das Diner hatte der Wirt den schönen runden Tisch reserviert, denn sicherlich wollte man parlieren. Doch am Abend gab es Szenen, und schnell wurde dem Wirt klar, dass hier etwas nicht stimmte – jeder der fünf Pressefritzen schien überrascht, ja geradezu brüskiert über die Anwesenheit der anderen Journalisten. So verlangten drei der Presseleute einen Einzeltisch, zwei wünschten gar im Zimmer zu speisen. Der Wirt verfiel ins Grübeln. Ärgerlich wurde er erst, als kaum Wein bestellt wurde. Er versuchte hie und da ins Gespräch zu kommen, doch er stieß allenthalben auf Abweisung. Einer stopfte sich seine Röschti sogar vor dem Laptop rein, in einer Hand die Gabel, die andere Hand auf der Tastatur. Diese arroganten Medienfuzzis. Da waren ihm ja die deutschen Touristen noch lieber! Hinzu kam, dass das Zimmermädchen am nächsten Mittag völlig unangetastete Minibars meldete. Die Journalisten waren allesamt schon gegen sieben Uhr aus dem Haus geeilt. Man beobachtete sie im Dorf, wo sie sich mit Hochtouren-Bergausrüstung und Proviant eindeckten. Jeder von ihnen teilte dem Wirt im Laufe des Tages mit, am nächsten Tag zu einer Tour aufbrechen zu wollen, zwei studierten beim Abendessen Wanderroutenkarten. Mir soll’s recht sein, dachte sich der Heidihof-Wirt, immerhin hatten fast alle für vierzehn Tage im Voraus gebucht. Abends wurde jetzt nur noch Mineralwasser serviert, man wolle am nächsten Tag früh aufbrechen hieß es. Gegen fünf Uhr Morgens hörte der Wirt schon das erste Mal die Haustür quietschen, dann im Rhythmus von zehn Minuten noch viermal. Wo wollten diese Pressefuzzis überhaupt hin? Besonders bergtüchtig hatte keiner von denen ausgesehen, diese verweichlichten Städter. Beim Nachdenken schlief der Wirt wieder ein.

In Frankfurt kam es zu einer Versteigerung einiger Wertgegenstände aus dem Haus der verstorbenen Dame Clara. Es war nun doch noch ein glücklicher Erbe aufgetaucht, ein auch schon recht betagter, ungepflegter Mann aus Berlin, der offensichtlich eine Verwandtschaft nachweisen konnte. Der junge Arzt hatte nach seinem Gespräch mit Ekki fleißig Heidi-Literatur gewälzt und kannte die rührende Geschichte nun bald in- und auswendig. So ging er zu der Auktion und war gespannt, ob er die Schatulle wohl doch noch ersteigern konnte. „Was soll ich mit dem alten Plunder?“ sagte der Erbe lakonisch, doch als der Arzt ihm die Geschichte mit der geschenkten Schatulle erzählte wurde er spitzfindig und verlangte einen >horrenden Preis. Erst als der Arzt gehen wollte lenkte der Erbe ein, und verkaufte sie ihm für satte 350 Euro, wonach er sich die Hände rieb. Zuhause sah sich der Arzt noch mal alle Fotos an, nahm das mit den zwei Mädchen und dem frechen Bub, der die Zunge rausstreckte, und kritzelte hinten einen kleinen Text auf das Foto: „Liebe Heidi, die Clara ist friedlich gestorben, sie sagt dir Lebewohl.“ Er steckte das Foto in einen Briefumschlag und musste über sich selbst lachen – was mache ich hier nur für einen Blödsinn, wo schicke ich den Brief denn nun hin? Und er schrieb: An das Heidi und den Geißenpeter, Auf der Alp, Schweiz. Auf die Rückseite schrieb er seinen Absender. Als er den Brief eingeworfen hatte kam er sich wie ein Riesen-Kindskopf vor.

In der Morgendämmerung hasteten fünf schwer bepackte Gestalten in einem gewissen Abstand voneinander den Hang hinauf. Im Wald stand einsam ein alter Mann und beobachtete mit einem ihm unerklärlichen Unbehagen die merkwürdig zersprengte Gruppe. Jeder der fünf Journalisten hing während seiner Wanderung schon seinem Aufmacher nach: Das Heidi lebt – Ein Märchen wird Wirklichkeit – Heidi feiert ihren Hundertvierzigsten – Wunderwaffe gegen das Altern im Gletscherwasser – Das Wunder von Maienfeld. Keiner der fünf Wanderer blieb auf dem Weg, denn eines war klar: das Heidi lebte sicherlich zurückgezogen wie ein Murmeltier und nicht am Wegesrand. So nahm jeder eine andere Route – schließlich waren sie ja die gewieftesten Spürhunde der Ostschweiz. Der Alte, der einen scharfen Geruch nach Tier in seinen Kleidern trug, ging derweil raschen Schrittes ins Tal hinunter. Im Dorf angekommen steuerte er, wie jeden zweiten Monat, zielstrebig das Postamt an, das noch geschlossen hatte, doch der Alte machte sich draußen an einem Postfach zu schaffen. Ginge man näher an das Postfach heran, könnte man lesen: Briefe an das Heidi. Der Alte sah die Briefumschläge kurz durch, dann stopfte er alles in seinen Rucksack und stiefelte wieder den Berg hinauf. Einen Brief hatte er diesmal in der Hand behalten: Es war ein Brief aus Frankfurt, der nicht nur An das Heidi, sondern auch an den Geißenpeter adressiert war. Der Alte grinste in seinen weißen Bart hinein. Als er die Baumgrenze erreicht hatte, wurde er von einer meckernden Ziegenherde empfangen, allen voran ein ziemlich großer stinkender Ziegenbock, der seinen mächtigen Penis erst am Oberschenkel des Alten rieb und dann mit einem Riesensatz eine Ziege besprang, die es nicht mehr schaffte, das Weite zu suchen und sich meckernd ergab. Der Alte kraulte in seinem langen, weißen Bart, suchte sich ein sonniges Plätzchen und öffnete den ersten Brief in seinem Leben, der auch an ihn adressiert war.

Nach vierzehn Tagen wusste der Wirt vom Heidihof nicht so recht was er machen sollte. Es kamen etliche Buchungsanfragen, und keiner seiner fünf prominenten Gäste war bislang zurückgekehrt. Die Zimmer waren verwaist und die Buchungszeit abgelaufen. Nun prasselten neue Buchungsanfragen herein, und er wollte sich das Geschäft nicht entgehen lassen. Schließlich rief er in den Redaktionen an. Hier war man ratlos. Ja, man wolle noch eine Woche draufbuchen hieß es. Nur die Sonntagszeitung bat, das Zimmer zu kündigen. Ein mulmiges Gefühl beschlich den Wirt. Als er den Escher Manni von der Bergwacht am Montagmorgen beim Bäcker traf, teilte der Wirt ihm seine Sorgen um die fünf verschollenen Gäste an. Mit großem Rucksack, Seilen, Steigeisen und Biwack seien die Presseleute losmarschiert, Ziel unbekannt, sie hätten sich allesamt ausgeschwiegen, was schon merkwürdig sei. Der Manni kaute nachdenklich an seinem Apfeltäschli. In der Bergwacht angekommen kochte er sich einen starken Kaffee und verspeiste sein zweites Apfeltäschli. Dann rief er zwei Bergführer an, die am nächsten Tag eine Tour hatten, den Fischli Max und den Rüther Jean-Luc.

Die Ereignisse der folgenden zwei Wochen brachten dem Maienfelder Tagblatt einen nachhaltigen finanziellen Aufschwung und dem Chefredaktor, dem Bollinger Robert verhalfen sie zu einem schönen Sprung auf der Karriereleiter. Am Mittwochmorgen trafen holländische Touristen auf einen verstört wirkenden Wanderer, der etwas von einer Ziegenbock-Attacke und von einem bösartigen alten Gespenst faselte. Er war ohne Gepäck und ihm fehlte der rechte Schuh, der Socken am Fuß war blutgetränkt, er humpelte und auch am Kopf schien er eine Verletzung zu haben, seine Stirn war blutverkrustet, außerdem zitterte er am ganzen Leib und behauptete, ein gewisser Peter sei hinter ihm her. Die holländischen Kinder fürchteten sich und die Touristen, die nur wenig verstanden, nahmen den Mann mit ins Dorf und lieferten ihn bei der Kantonspolizei ab. Die überstellten den sichtlich verwirrten Mann nach Chur ins Kantonsspital in die Psychiatrische, wo man mit Berg- und Heidi- Kollern bestens vertraut war. Nach wenigen Monaten konnte man den Escher Piet nach Zürich entlassen – seine Stelle bei der Drehscheibe Schweiz war da allerdings schon besetzt von einem gewissen Bollinger Robbi, der mit der Schlagzeile Zürcher Reporter im Heidi- Wahn den Sprung nach Zürich geschafft hatte. Alarmiert durch das Auffinden des Escher Piet hatte die Bergwacht Hundestaffeln und Hubschrauber zur Suche eingesetzt. Für den Mai war es ungewöhnlich kalt, und in der Nacht hatte die Wetterstation 20 Minusgrade auf 2.000 Metern Höhe gemeldet. Den allseits gefürchteten Jager, der sich gern selbst als „Reporter-Sau“ betitelte und der bei der Recherche bekanntlich über Leichen ging, fand man am darauffolgenden Sonntag in einer merkwürdigen Stellung, weitab der Wanderwege. Er lag mit seltsam verdrehten Extremitäten mit dem Gesicht nach oben in einer Kuhle. Da sein Körper sich leicht bewegte vermutete der Rettungstrupp, dass er noch am Leben sei. Als sie ihn anhoben war der Körper aber steif; was sich bewegte, war sein Rucksack, mit dem er in dem Eingang zu einer Murmeltierhöhle feststeckte. Da beide Arme sichtlich übel gebrochen waren, hatte er sich aus dem Rucksack wohl nicht befreien können und war im Murmeltierloch gefangen. Die armen Tiere, eine sechsköpfige Familie, waren ihrerseits gefangen in der eigenen Höhle und hatten sich in ihrer Verzweiflung mit dem Proviant aus seinem Rucksack gütlich getan. Dort tummelten sie sich immer noch, als die Rettungskräfte den Jager anhoben. Die Bewegung von Jagers Körper war also nur aus dem Rucksack gekommen, der Jager selbst war mausetot. Den Felix von der Weltwoche, sonst ein Mann mit Stil und Klasse, den selbst engste Freunde nur im Gucci-Anzug kannten, fanden Bergleute gar nicht weit vom Jager entfernt. Er lag splitternackt in seinem Biwak, nur der rechte Fuß war noch mit einem blauschwarzmelierten Woll-Kniestrumpf der Firma Schiesser bekleidet. Der andere Strumpf steckte über seinem Penis. Auch Schlafsack, Rucksack und Proviant fehlten. Ein penetranter Gestank ging von ihm aus, wie von einem brunftigen Ziegenbock. Die Bergleute konnten sich darauf nun überhaupt keinen Reim machen. Offensichtlich war er erfroren. Den Sprüngli Lucas vom Blick stöberten die Berghunde schließlich in einer Höhle auf. Auch er stammelte, wie schon der Tage zuvor der Escher Piet, der sich im Spital mithilfe eines kongenialen Drogenmix immerhin schon etwas beruhigt hatte, unverständliches Zeug: auch darin kamen wieder Ziegen vor und ein Irrer, der ihn verfolge. Auch der Sprüngli war in einem körperlich desolaten Zustand, tatsächlich hatte er eine Verletzung, die vom Angriff eines gehörnten Tieres zu stammen schien. Man hatte Mühe, ihn aus der Höhle zu entfernen und in den Hubschrauber zu verfrachten, der Arzt musste ihm – leider recht gewaltsam – eine Beruhigungsspritze verpassen, denn der Sprüngli wehrte sich mit Händen und Füßen. Auf einer Liege fixiert flog man mit ihm über die Alpen, und kurz vor der Landung auf dem Dach des Kantonsspitals schnappte der Sprüngli komisch nach Luft und verstarb noch im Hubschrauber. Die Spitalsärzte konnten ihn nicht mehr wiederbeleben; wie sich herausstellte, hatte er auch tagelang seine Herztabletten nicht mehr eingenommen, trotz seines starken Bluthochdrucks. Der Urs, der die ganze Geschichte ja erst ins Rollen gebracht hatte, tauchte nicht mehr auf und galt bald als verschollen. Er war Junggeselle und Einzelkind, so gab es nur seine Eltern, die weiter nach ihm suchen ließen, was sie ein beachtliches Salär kostete. Monate und noch Jahre später gab es immer wieder Meldungen, jemand habe den Urs in den Bergen gesehen, mal in den Dolomiten, mal im Wallis, aber auch als Penner am Bahnhof in Lausanne oder sogar im Frankfurter Rotlichtviertel wollte man ihn erkannt haben. Dann verlor sich die Spur.

In Maienfeld torpedierten die gruseligen und geheimnisvollen Ereignisse die Geschäftsleute in eine höhere Einkommensliga – das Tourist Office meldete rekordverdächtige Buchungsanfragen und der Wirt vom Heidi-Hof hatte bereits einen beeindruckenden Gedenkfels im Hof aufstellen lassen. An den Fundstellen der verunglückten Journalisten wurden Kreuze aufgestellt und neue Wege dorthin geebnet, da die Touristen jetzt nicht mehr den Heidi-Pfad gehen, sondern die Unglücksorte sehen wollten.

Nachdem der Berg wieder zur Ruhe gekommen war nahm der alte Mann mit seinem Briefpaket im Rucksack den steilen, felsigen Pfad über etliche Schneefelder zu einer Hütte, in seinem Geleit ein mächtiger Ziegenbock. Aus der Holzhütte, halb in den Fels gebaut, sah er Rauch aufsteigen und er freute sich auf ein schönes Stück warmen Ziegenkäse und einen kräftigen Kräuterschnaps. Er winkte der Frau, die vor der Hütte auf einem liegenden Baumstamm saß und Kartoffeln schälte, und die genauso viele Falten und tiefe Furchen im Gesicht hatte wie er selbst. Als sie ihn sah verschwand sie in der Hütte und kam mit Gläsern und einer Flasche, in der eine bräunliche Flüssigkeit schwappte, wieder heraus. Der alte Mann wedelte mit dem Foto, und beim Trinken sahen sich die beiden Alten das Foto an. „So ein Luder“, sage die alte Frau, und ihre Stimme klang wie die eines heiseren Raben, „hat sich einfach vor meinem 140. Geburtstag heimlich davongemacht.“ „Wir haben uns kaum verändert“, krächzte der alte Mann und wedelte mit dem Foto in der Luft. Er war ja immerhin schon vier Jahre älter als die Frau, und er fand, er sah nicht älter aus, im Gegenteil. Die Alten kicherten und nahmen noch einen kräftigen Schluck. „Hol mir was zu Schreiben“, sagte die Frau, „meinen Geburtstag feiern wir trotzdem wieder zu Dritt.“ Etwa zwei Monate später, Anfang August, nahm in den frühen Morgenstunden ein junger Arzt aus Frankfurt den Heidi-Pfad, in seinem Gepäck drei Flaschen besten Rheinländischen Weins und eine barock verzierte Schatulle. Als er die Waldgrenze hinter sich gelassen hatte >hörte er einen Pfiff. Hinter ihm trat aus dem Wald ein uralter Mann mit einem Ziegenbock und winkte ihm stürmisch zu. Oben in der Hütte bereitete währenddessen das Heidi ein teuflisch gutes Käsefondue mit viel Kräuterschnaps, wie es der Frankfurter Arzt in seinem ganzen Leben sicherlich noch nie gekostet hatte.