Haarscharf, aber sehr originell am Klischee: Mit "Time to say goodbye" holt Christa Reusch den fünften Platz bei unserem Schreibwettbewerb "Liebe vor dem Alpenglühn". Wir gratulieren.

Time to say goodbye

 

Christian öffnete den Geländewagen. Er wollte eben einsteigen, da vibrierte sein Handy. Er nahm den Anruf entgegen, als ein BMW abrupt abbremste. Die Steinchen des Streugutes, die vereinzelnd am Straßenrand lagen, spritzten auf. Idiot, dachte er kopfschüttelnd und konzentrierte sich auf sein Gespräch.
„Idiot“, schrie die junge Frau, die dem BMW entstieg. Sie hievte einen Trolley aus dem Kofferraum und knallte die Tür zu. Der Wagen fuhr mit quietschen Reifen an. „Verdammter Idiot“, wiederholte sie wütend.
„Sie meinen nicht mich, oder?“
Sie wirbelte herum und starrte in das grinsende Gesicht eines Mannes.
„Nein, aber wenn Sie sich angesprochen fühlen...“, blaffte sie angriffslustig. Grün-braune Augen funkelten ihn zornig an.
Christian hob abwehrend die Hände, steckte sein Handy in die Gesäßtasche seiner Jeans und machte Anstalten in seinen Wagen zu steigen.
„Entschuldigung“, sagte sie hastig. „Wissen Sie zufällig, ob es hier ein Hotel gibt?“
„Gibt es nicht, aber eine nette Pension.“
„Wie komme ich dahin?“
„Durch den ganzen Ort, dann die letzte Straße links hoch. Pension Resi.“
„Sie kommen da nicht zufällig vorbei?“
Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich hab einen wichtigen Termin.“ Er hob grüßend die Hand und stieg in seinen Wagen.
„Zu freundlich“, murmelte sie und machte sich auf den Weg.
Bald ging ihr Atem schneller und sie schwitzte. Das Dorf war größer, als es auf den ersten Blick schien. Sie zog ihren Blazer aus und verfluchte Thomas. Wie konnte er sie einfach hier aus dem Auto werfen? Sieben Tage Spa-Urlaub hatte er ihr versprochen. „Für mein Goldkehlchen tu ich doch alles“, versicherte er, als sie sich gerührt bei ihm bedankt hatte. Es machte sie wütend. Er machte sie wütend. Sie fühlte sich hintergangen. Wie konnte er in ihrem Urlaub einen Auftritt organisieren, ohne sie zu fragen? „Wenn man nicht ganz oben mitschwimmt“, erklärte er ihr, bevor er sie hier aussetzte, „ist man ohne guten Manager aufgeschmissen. Aber du weißt anscheinend nicht zu würdigen, was ich alles für dich tu.“

Schnaufend erreichte sie die Pension. Sie musste unweigerlich an die bayerische Kultserie ‚Der Bulle von Tölz’ denken. Führte die Mutter des ‚Bullen’ nicht auch eine Pension Resi?
Sie betrachtete das große, einstöckige Haus mit dem riesigen umlaufenden Balkon. Ein buntes Blumenmeer ergoss sich über zahllose, hölzerne Blumenkästen.
„Wunderschön“, murmelte sie und drückte den Klingelknopf.
„Grüß Gott. Sie wünschen?“ Eine kleine, dralle Frau im Dirndl öffnete und strahlte sie an.
„Hallo! Ich bräuchte ein Zimmer.“
„Wenn Sie bitte eintreten wollen?“
Sina folgte ihr ins Innere. Genauso hatte sich Sina die Pensionswirtin vorgestellt, auch wenn diese mit leichtem Akzent sprach.
„Einen Augenblick bitte.“ Sie tippelte davon und Sina blickte sich um.
Sie stand in einem großen Raum, der mehrere Funktionen zu erfüllen schien: Speisesaal, Rezeption, Aufenthaltsraum, sogar ein Klavier gab es. Auf alle Fälle wirkte es sehr gemütlich und es roch gut. Erst jetzt merkte Sina, dass ihr Magen knurrte. Müde und hungrig ließ sie sich auf einen der Holzstühle fallen. Die rundliche Frau kehrte zurück und Sina erhob sich wieder. Eine große, schlanke Frau begleitete sie. Diese reichte Sina die Hand. „Resi Huber, die Besitzerin der Pension, und das ist Carla. Die beste Köchin weit und breit. Herzlich willkommen.“
„Sina Goldberg“, stellte sich Sina vor.
„Goldberg“, wiederholte Frau Huber und runzelte kurz die Stirn, „der Name kommt mir bekannt vor. Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“
Sina zögerte kurz. „Lehrerin“, erklärte sie. „Gesang und Klavier.“ Das entsprach der Wahrheit, wenn auch nicht der ganzen.

Am nächsten Morgen beschloss Sina auf den Wendelstein zu wandern. „Entschuldigen Sie“, sprach sie deshalb Carla an, als diese ihr Kaffee nachschenkte, „ist es weit zur Wendelsteinbahn? Mir sind gestern im Ort die Hinweisschilder aufgefallen.“
„Nein. Ungefähr 15 Minuten zu Fuß.“ Carla musterte sie kritisch. Schließlich blieb ihr Blick an Sinas Riemchensandalen hängen. „Sie wollen wandern? So? Sie wissen, dass in den Bergen noch Schnee liegt? Vereinzelt zumindest.“
Sina grinste und wackelte mit den Zehen. „Ja. Aber sie haben recht. Diese Schuhe sind eher ungeeignet.“
Carla hob den Zeigefinger, wie eine Lehrerin. „Bin sofort wieder da.“ Kurz drauf kam sie zurück und stellte ein paar Wanderschuhe auf den Boden. „Die sind von meiner Tochter. Sie kommt nur ab und zu her. Sie hätte bestimmt nichts dagegen, wenn ich sie Ihnen borge. Außerdem“, sie schwenkte einen kleinen Rucksack, „hab ich Ihnen eine Brotzeit eingepackt. Wandern macht hungrig.“
„Danke.“ Gerührt von Carlas Fürsorge fehlten Sina die Worte. Sie schlüpfte in die Schuhe. „Passen“, rief sie triumphierend.
„Guten Morgen!“
Carla und Sina drehten sich um. In der Tür stand der Mann, der ihr die Pension empfohlen hatte.
„Guten Morgen, Christian.“ Carla strahlte ihn an.
„Die Resi hat angerufen. Gibt was zu reparieren.“
Carla zuckte die Achseln. „Ich frage sie.“
„Sie haben also hergefunden“, meinte er und musterte Sina. Sie war um einiges kleiner als er, er schätzte sie auf höchstens einsfünfundsechzig.
Es ärgerte sie, wie er sie taxierte. „War ja nicht so schwierig“, gab sie schnippisch zurück. „Nur mühsam mit dem Koffer.“
„Dann haben Sie zu viel dabei.“ Grinsend lehnte er am Türstock.
„Ich war auf einen Hotelurlaub eingestellt und...“
„Und?“
„Das geht sie gar nichts an.“ Sie sprang auf, packte den Rucksack und stürmte an ihm vorbei. Sie hörte ihn lachen. Wütend marschierte sie los. Warum brachte dieser Christian sie nur jedes Mal zur Weißglut? Und warum zum Teufel fuhr sie nicht nach München zurück? Weil, flüsterte eine innere Stimme, du einmal ohne Termine, ohne Verpflichtungen sein wolltest. Ja, aber wenigstens verlief ihr Leben dort eben. Oder nicht?

Sie spazierte zur Talstation. Von da brachte sie die Wendelsteinbahn zur Bergstation. Mit jedem Meter, den sie an Höhe gewann, besserte sich ihre Laune.
Auf einem gut befestigten Wanderweg gelangte sie in etwa 20 Minuten auf den Gipfel. „Wow“, entfuhr es ihr, als sie das großartige Panorama genoss. Der Angestellte der Seilbahn hatte recht. Er hatte ihr erklärt, dass man von hier einen super Blick über Inntal und Chiemgau habe. Sie sah noch in die kleine Kapelle, dann wanderte sie über den Panoramaweg zum Wendelsteinhaus und von dort zurück zur Seilbahnstation. Vollkommen entspannt stieg sie aus der Kabine.
„Hallo!“
Sina drehte sich um. Christian. „Verfolgen Sie mich?“, wollte sie wissen.
„Ganz schön eingebildet!“ Er lachte und ein Grübchen wurde sichtbar. Obwohl sie ihn auf Ende 30 schätzte, sah er sehr jungenhaft aus. „Ich hatte hier was zu erledigen.“
„Ah! Ein dringender Termin.“
„Richtig“, gab er zurück, ihren Sarkasmus ignorierend. „Jetzt bin ich fertig und fahre zurück. Soll ich Sie mitnehmen?“
„Das letzte Stück schaffe ich auch noch“, gab sie patzig zurück und wusste, dass sie wie ein bockiges Kind klang.
Das leise Magenflattern kam sicherlich nur vom Hunger und entschlossen machte sie sich auf den Weg.

Zufrieden schob sie ihren Teller von sich. Carla war wirklich eine großartige Köchin. Träge blickte sie aus dem Fenster, als die Pensionswirtin hereinkam. Im Schlepptau ein weinendes Mädchen, das einige Zettel an sich presste.
„Frau Goldberg“, begann Frau Huber, „ich weiß, Sie haben Urlaub, aber das ist ein Notfall. Wir brauchen Ihre Hilfe.“ Sie schob die Kleine ein Stück nach vorn. „Das ist Mia. Am Freitagabend findet ein Konzert statt. Mia darf teilnehmen und dort singen, aber ihre Mutter hat sich die Hand gebrochen und kann sie nicht auf dem Klavier begleiten.“ Sie brach ab und Sina merkte, dass sie nach den richtigen Worten suchte.
„Ich soll einspringen“, brachte Sina die Bitte auf den Punkt. Die junge Frau sah sich rasch um. Keine anderen Gäste. Sie deutete auf das Klavier. „Darf ich?“
Resi Huber nickte und Sina setzte sich an das Instrument. „Hast du die Noten dabei?“, wollte Sina von Mia wissen. Schüchtern hielt ihr das Mädchen die Blätter hin.
Sina nahm sie. „Wow! ‚Time to say goodbye’, wunderschön, aber nicht einfach.“ Die junge Frau begann zu spielen. Mia und die Pensionswirtin sahen sich an und waren begeistert. Als Mia zu singen begann, zog sich Frau Huber diskret zurück.
Sina war überrascht. Das Mädchen hatte wirklich Talent.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Nach dem Frühstück ging Sina wandern und entdeckte dabei viele schöne Plätze im Mangfallgebirge. Am Spätnachmittag besuchte sie Mia daheim. Die Familie wohnte in einem großen Haus - mit einem Flügel. Mias Mutter war zunächst skeptisch. Sina sah es ihrer Miene an, doch rasch erkannte die Mutter, dass diese junge Frau nicht nur ausgezeichnet Klavier spielte, sondern auch eine wunderschöne Stimme besaß. Sina wusste lustige Übungen zum Einsingen und die beiden hatten viel Spaß. Sie gab Mia Tipps, um deren Singtechnik zu verbessern. Mia strahlte, als Sina sich am Donnerstag verabschiedete und dem Mädchen versicherte, dass es bestimmt ein toller Auftritt würde.

Beschwingt schlenderte Sina zurück zur Pension, als ein Wagen neben ihr hielt. „Taxi gefällig?“
Sina schüttelte den Kopf. „Nein danke. Ich geh’ gern zu Fuß.“
„Regnet aber gleich.“
Christian hob einen Werkzeugkoffer vom Beifahrersitz und stellte ihn nach hinten. Sie sah zum Himmel. Schwarze Wolkentürme schoben sich rasch näher und die ersten Blitze zuckten. Sina stieg ein.
„Ihre Arbeitsausrüstung?“, wollte sie wissen und deutete auf die Werkzeugkiste.
„Haben Sie was gegen Handwerker? Können nicht alle einen bequemen Halbtagsjob haben.“
Sie verdrehte die Augen. Während sie überlegte, ob sie doch lieber zu Fuß laufen sollte, fielen die ersten Tropfen. Sie schluckte seine letzte Bemerkung und stieg ein.

„Danke fürs Mitnehmen“, sagte sie, als er vor der Pension hielt, und wollte aussteigen. Er legte ihr leicht die Hand auf den Arm.
„Das hört gleich wieder auf. Wenn Sie jetzt gehen, werden Sie patschnass. Warten Sie einen Moment.“
Er hatte recht.
Sina befand sich im Zwiespalt. Nur zu präsent war seine Anwesenheit und sie empfand sie keineswegs als unangenehm. Im Gegenteil. Andererseits hatte sie sich lange von Thomas ihr Leben diktieren lassen. Das wollte sie nicht mehr. Automatisch verspannte sie sich, als sie an ihren Manager dachte. Ex-Manager. Sie hatte ihm am Montag gekündigt. Schriftlich. Per Einschreiben. Den Brief dürfte er inzwischen erhalten haben. Nie wieder würde sie Berufliches und Privates vermischen. Das brachte nichts als Ärger.
„Einen Penny für Ihre Gedanken“, riss Christian sie aus ihren Überlegungen und tippte ihr sanft gegen die Stirn. Ihr Magen zog sich erneut zusammen. Diesmal war es angenehmer Natur.
„Das wollen Sie nicht wirklich wissen. Total uninteressant.“
„Warum lassen Sie das nicht mich entscheiden?“, gab er zurück. Er musterte sie aufmerksam und musste sich eingestehen, dass sie ihm gefiel. Sehr gefiel. Er runzelte die Stirn, als er bemerkte, in welch gefährlichen Bahnen sich seine Gedanken soeben bewegten. Erst mal musste er die Scheidung von seiner Frau verdauen.  Eine Beziehung kam für ihn momentan nicht in Frage. Schon gar nicht mit einer Touristin. Einer dermaßen zickigen noch dazu. „Sie haben recht“, antwortete er deshalb, „es ist mir egal. Ich wollte nur etwas Smalltalk machen.“
Sina zuckte zusammen, dann straffte sie die Schultern. „Ich möchte Sie auf keinen Fall langweilen. Sorry. Wird nicht mehr vorkommen.“
Bevor er reagieren konnte, öffnete sie die Wagentür und lief durch den Regen. Im Nu war sie komplett durchweicht. Lange zurückgehaltene Tränen bahnten sich ihren Weg.

Er starrte ihr nach, dann schlug er mit der Hand auf das Lenkrad. „Christian, du bist ein Idiot“, murmelte er und überlegte, ob er ihr nachlaufen solle. Sein Handy nahm ihm die Entscheidung ab. „Ja, ich komm’ sofort. Kein Problem. Ich hab’ Zeit.“ Vor allem bist du ein Feigling, dachte er, wendete den Wagen und fuhr auf die Hauptstraße zurück.

Carla erwartete Sina mit einem Handtuch und einer heißen Schokolade. „Rezept meiner Mutter gegen Kummer.“ Die mollige Köchin lächelte Sina an und hielt ihr ein Taschentuch vor die Nase. „Für die Tränen“, erklärte sie.
„Und ich dachte“, schniefte Sina, „es fällt keinem auf, weil ich eh nass bin.“
„Tja.“ Carla grinste. „Mutterinstinkt. Das bleibt, auch wenn die eigenen Kinder aus dem Haus sind.“
„Sie sind nicht von hier, oder?“
Carla lachte und ihr mächtiger Busen hob und senkte sich im Takt. „Aus Italien. Wegen Amore.“ Sie seufzte und hing wohl Erinnerungen nach. „Er ist weitergezogen, ich bin geblieben.“ Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Sina.
In langsamen Schlucken trank Sina den Kakao, dann brach es aus ihr heraus und sie erzählte von ihrem Streit mit Thomas. „Ohne ihn“, beendete sie ihren Bericht, „kann ich nur verzogenen Gören Klavierunterricht geben.“
„Sagt wer?“ Carlas Mienenspiel wandelte sich von Mitleid in Ärger.
„Thomas“, gab Sina zurück. „Wahrscheinlich hat er recht. Andererseits mag ich Kinder und es gefällt mir ihnen die Musik näherzubringen, egal ob auf dem Klavier oder mit Gesang.“
„Dieser Thomas ist ein Trottel“, stellte Carla fest. „Sind die meisten Männer.“ Die Köchin grinste. „Bis auf Christian. Sehr nett und sehr attraktiv! Und lustig!“
Sina schnaubte. „Dem bin ich zu langweilig. Außerdem mag ich keine Männer mit Bart.“
„Nur wenig Bart“, widersprach Carla, „und er sieht trotzdem gut aus.“ Sie hob die leere Tasse hoch. „Noch einen?“
„Nein, danke. Gute Nacht.“

Das Konzert wurde ein voller Erfolg. Mia begeisterte das Publikum, sowohl mit ihrem Können, wie auch mit dem ungezwungenen Charme einer Zehnjährigen.
Christian war ebenfalls im Publikum. Er trug einen Anzug und sah toll aus, wie Sina sich widerstrebend eingestand. Auch der Short-Boxed-Bart stand ihm. Carla hatte recht, Christian war ein attraktiver Mann. Wenn er nur nicht so ungehobelt wäre. Egal, dachte sie unwirsch. Was zerbrach sie sich überhaupt den Kopf über ihn?

Als Sina und Mia nach der Vorstellung ins Foyer kamen, stand Christian neben Mias Mutter. Die beiden lachten und wirkten sehr vertraut. Sina spürte einen winzigen Stich. Ihr Fehler, zu denken, er wäre Single.
Er ging ihnen entgegen. Mia stürmte auf ihn zu und lachend hob er sie hoch, als ob sie ein Fliegengewicht wäre. Das Mädchen umarmte ihn stürmisch. „Christian!“, schrie sie begeistert. „Du bist gekommen.“
„Selbstverständlich. Hatte ich doch versprochen. Das würde ich mir nie entgehen lassen.“ Er grinste und wuschelte ihr durchs Haar.
Ein Lokalreporter bahnte sich den Weg zu ihnen. „Entschuldigen Sie?“
Sina und Christian sahen auf und der Blitz einer Kamera blendete sie.
„Deine Eltern sind bestimmt mächtig stolz“, wendete der Reporter sich an Mia, die sich zufrieden in Christians Arme kuschelte.
„Sina ist doch nicht meine Mutter.“ Das Mädchen lachte fröhlich. „Sie ist meine Lehrerin. Die beste der Welt.“
Ein rascher Blick streifte die junge Frau. „Aber natürlich! Sie sind Sina Goldberg, nicht wahr?“
Sina winkte ab und machte, dass sie fortkam.

Eigentlich wollte sie sofort nach dem Konzert zurück, aber die anderen bestanden darauf, dass sie mit ihnen in ein Restaurant fuhr. Sina kam sich überflüssig vor. Das fünfte Rad am Wagen. Geistesabwesend beobachtete sie die Gäste am Nachbartisch. So entging ihr, dass Christian sie verstohlen musterte. Direkt nach dem Konzert strahlte sie mit Mia um die Wette, doch nun wirkte sie eher unglücklich. Was hatte wohl ihren Stimmungsumschwung verursacht? Er zerbrach sich den Kopf, ob er sie irgendwie verärgert hatte, war sich jedoch keiner Schuld bewusst. Nicht, dass diese Frau einen Grund brauchte, um wütend auf ihn zu sein. Obwohl sie unberechenbar war, stahl sie sich immer öfter in seine Gedanken. Vor allem, wenn sie, wie heute, ein hautenges Cocktailkleid trug und darin unverschämt sexy aussah.

Weit nach Mitternacht kroch Sina an diesem Abend ins Bett. Mias Mutter hatte gefragt, ob sie sich vorstellen könne, ihre Tochter weiter zu unterrichten. Sina hatte abgelehnt, obwohl Mia großes Talent besaß und sie das Mädchen wirklich gern mochte. Und Christian ebenfalls. Genau da lag das Problem. War er Mias Vater? Warum hatte er ihr nicht gesagt, dass er mit Mias Mutter ein Verhältnis hatte? Weil es sie nichts anging, lautete die einfache Antwort, die Sina nicht hören wollte.
Wahrscheinlich werde ich als alte Jungfern enden, dachte sie traurig und bemitleidete sich selbst, kurz bevor sie einschlief.

Sina hatte gleich am zweiten Tag Wanderstiefel und einen Rucksack gekauft, sowie eine Wanderkarte und eine Kappe. Für Anfang Mai war es erstaunlich warm und die Sonne brannte auf ihr dunkelbraunes Haar. Eine letzte Wanderung wollte sie noch machen. Dann würde sie zurück nach München fahren. In ihr altes Leben. Sie hatte für morgen um die Rechnung gebeten.

Sie schulterte ihren Rucksack, als die Türglocke ging. Carla kam mit finsterer Miene zurück. „Sina, da ist ein Mann, der will Sie sprechen.“
„Aha. Wer?“ Sina las in ihrem Gesicht, dass Ärger drohte. „Doch nicht Thomas?“
Carla schnaubte. „Er sei dein Manager und Verlobter, sagt er. Ich muss gucken, ob Frau Goldberg da ist, hab ich geantwortet. Geh nicht raus!“
„Keine Sorge.“ Sina legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. „Er ist gleich wieder weg.“

„Was willst du?“, fragte Sina anstatt einer Begrüßung.
„Hallo Sina. Ich freu’ mich dich zu sehen.“ Er beugte sich vor und wollte sie küssen. Sein Lächeln erreichte seine Augen nicht und Sina machte einen Schritt zurück. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was willst du?“, wiederholte sie.
„Mit dir reden.“
„Wozu?“
„Du wolltest Ruhe. Keinen Auftritt. Dann lese ich das.“
Er hielt ihr eine Ausgabe der Regionalzeitung hin und deutete auf das Foto im Foyer. „Du verlogenes Miststück.“
„War’s das?“ Sina wandte sich zum Gehen. Er packte sie am Arm. „Lass mich sofort los.“ Sie schüttelte seine Hand ab und funkelte ihn zornig an. „Und jetzt geh’.“
Sie wartete nicht, dass er ihrer Aufforderung folgte, sondern lief an ihm vorbei. Carla hatte ihr erlaubt, jederzeit ihr Fahrrad zu benutzen. Sina schob es durch das Gartentürchen und radelte los. Sie würde nochmals auf den Wendelstein fahren.

Nach kurzer Zeit merkte sie, dass ihr der BMW folgte. Sie fluchte, denn leider gab es nur diese Straße zur Talstation. Allerdings musste er einen Parkplatz suchen, während sie mit ihrem Rad direkt vor die Seilbahnstation fahren konnte. Sie war sich sicher, dass er ihr nicht nachkommen würde. Er hasste die Natur. Sport trieb er ausschließlich im Fitnessstudio. Hatte er sich am Wochenende von ihr zu einem Spaziergang durch den Englischen Garten in München überreden lassen, tat er dies mit einer derart säuerlichen Miene, dass auch ihr die Lust bald verging. Sina wunderte sich einmal mehr, dass sie sich nicht schon längst von Thomas getrennt hatte. „Scheißbequemlichkeit“, murmelte sie und sperrte das Rad ab.

Sie sprintete zur Seilbahn, kaufte rasch ein Ticket und schlüpfte im letzten Moment, bevor sich die Türen schlossen, in die Kabine. Aufatmend lehnte sie den Kopf gegen die Scheibe. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Immer öfter mischte sich Christian in diesen Wirrwarr und verkomplizierte alles.

Wie bei ihrer ersten Wanderung im Mangfallgebirge marschierte sie in Richtung Gipfel. Nur wenige Touristen tummelten sich auf der Aussichtsplattform und genossen das großartige Panorama. Ein Kolkrabe stieß sein heiseres Krächzen aus und Sina folgte mit den Augen dem Flug des schwarzen Vogels. Weiße Wolkenfetzen trieben träge am blauen Frühlingshimmel.
Nach einiger Zeit war sie allein. Herrlich. Sie schloss die Augen und hielt das Gesicht der Sonne entgegen.
„Seit wann“, schnaufte jemand, „gehst du wandern?“
Sina fuhr herum. Thomas. Er war ihr tatsächlich gefolgt und noch schlimmer, er hatte sie tatsächlich gefunden.
„Wir haben uns nichts mehr zu sagen“, entgegnete sie so ruhig wie möglich.
„Oh, doch!“ Er kam einige Schritte näher und Sina wich zurück. „Und wie du aussiehst. Verschwitzt. Und die unmögliche Kappe. Wo ist die elegante Sängerin, die auf Konzertbühnen daheim ist und sowohl mit ihrem Anblick, als auch mit ihrem Gesang das Publikum betört?“
„Ach so?“ Sina zog die Augenbrauen hoch. „Eine mittelmäßige Sopranistin, die es ohne einen Manager niemals zu etwas bringen wird. Außer verzogene Kinder zu unterrichten. Deine Worte!“
„Das hab ich nicht so gemeint. Ich war wütend, weil du den Auftritt in Bayerisch Zell geschmissen hast. Als dein Manager...“
„Sorry, wenn ich dich unterbreche, aber du bist nicht mehr mein Manager. Ich habe dir ordnungsgemäß gekündigt.“
„Ich verstehe dich nicht. Wir passen hervorragend zusammen.“
„Stimmt“, gab sie zurück und spürte den metallenen Zaun in ihrem Rücken. Warum zum Kuckuck war ausgerechnet jetzt keine Menschenseele hier oben? „Du verstehst mich wirklich nicht. Es ist aus. Ein für alle Mal. Finito! Und jetzt verschwinde. Ich will dich nicht mehr sehen.“
„Du hörst mir jetzt zu“, schrie er und packte sie mit beiden Händen an den Oberarmen.
„Du tust mir weh. Lass mich los.“
„Sie haben gehört, was sie gesagt hat“, donnerte eine Stimme.
Augenblicklich ließ Thomas von ihr ab und drehte sich um. Hinter ihnen stand Christian. Er machte einen Schritt zur Seite und schob sich vor Sina. Obwohl er nichts tat, wirkte er sehr einschüchternd. Thomas hob abwehrend die Hände.
„Tut mir leid, Sina, wirklich. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Komm zurück zu mir, bitte.“
Sina schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Kraft mehr zum Streiten.
„Das wirst du bereuen“, brüllte ihr Exmanager aus sicherer Entfernung. „Kein Mensch wird dich buchen. Dafür werde ich sorgen. Ohne mich bist du ein Nichts.“ Drohend schüttelte er eine Faust in ihre Richtung.
Christian wartete, bis Thomas die Plattform verlassen hatte, dann drehte er sich um und nahm Sina behutsam in den Arm. Erschöpft lehnte sie sich an ihn und genoss diesen Augenblick. Nur kurz ausruhen, dachte sie. „Was machst du eigentlich hier?“
Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich wollte dich sprechen.“ Er ließ sie los und lief nervös einige Schritte hin und her. Steckte die Hände in die Hosentaschen, um sie gleich darauf wieder herauszuziehen. „Ich war in der Pension. Carla hat mir erzählt, dass dieser Thomas da war, ihr euch gestritten habt und er dich überhaupt ziemlich schäbig behandelt. Außerdem sah sie, dass er dir mit dem Auto nachfuhr. Und als ich am Parkplatz unten die Angeberkarre stehen sah...“
„Danke. Er ist ein Idiot und will nicht begreifen, dass...“
„Lass uns nicht von ihm reden“, murmelte Christian, zog sie an sich und küsste sie sanft. Ihr Herz klopfte schneller.
„Auch eine Art die Schönheit der Natur zu genießen“, rief jemand lachend und andere Wanderer stimmten ein.
Christian grinste. Er fasste Sina bei der Hand und gemeinsam machten sie sich an den Abstieg.
„Carla meinte, du fährst zurück nach München.“ Sina nickte und vermied es ihn anzusehen. Ihre Gedanken fuhren Karussell.
Er blieb stehen und hob ihr Kinn etwas an, so dass sie gezwungenermaßen in seine Augen schauen musste. „Warum?“
„Weil ich dort lebe“, antwortete sie und wusste, wie lahm es sich anhörte. „Ich habe Schüler, die ich nicht einfach im Stich lassen kann. Auftritte, bei denen ich schon zugesagt habe. Mein Beruf macht mir Spaß. Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, singen ist Arbeit und anstrengend.“
„Bleib hier. Bei mir.“
„Wie soll das gehen?“, rief sie und konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen herunterliefen.
„Was meinst du?“ Verwirrt runzelte er die Stirn.
„Du hast eine Familie. Eine Frau und Mia ist so ein süßes Mädchen. Ich würde nie...“
„Du denkst tatsächlich...“ Christian sah sie ungläubig an, dann lachte er. „Ich liebe Mia und auch ihre Mutter, aber Mia ist meine Nichte.“
„Dann ist ihre Mutter...“ Sina starrte ihn an.
„...meine Schwester“, vollendete er den Satz. Er zog sie an sich und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. „Ich war wohl nicht deutlich genug. Ich liebe dich.“
„Einfach so?“
„Einfach so“, bestätigte er lächelnd. „Und es ist mir egal, ob du dein Geld als Sopranistin oder als Klavierlehrerin verdienst. Hauptsache, du bist glücklich. Alles andere wird sich finden. Schönes Foto übrigens von uns in der Zeitung.“ Er grinste. „Und vorhin rief mich meine Schwester an, um mir mitzuteilen, dass ich ein Idiot sei.“
„Warum?“
„Sie ahnte, dass du denken würdest, sie sei meine Frau. Und...“
„Aber“, unterbrach sie ihn, „selbst dann kann ich nicht mein ganzes Leben ändern. Es ist - naja, es war zumindest bis vor einer Woche - in Ordnung.“
Er nahm ihre Hände in die seinen. „Time to say goodbye, würde ich sagen. Mia hat es dir vorgesungen. Ein kluges Mädchen.“ Christian lächelte sie an.  „Was ich gerade sagen wollte, als du mir ins Wort gefallen bist: Meine Schwester hat mir erklärt, ich würde bei ihr nichts mehr zu essen bekommen, wenn ich dich nicht überzeugen kann.“
„Was für eine Drohung.“ Sina lachte und ihre Augen funkelten. „Dann überzeug mich.“
Abermals zog er sie an sich. Ihre Pupillen wurden groß und ihr Herz schlug heftig gegen ihre Rippen. Langsam senkte Christian den Kopf und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Nicht sanft wie zuvor. Intensiver. Ein wohliger Schauer durchlief in Sekundenschnelle ihren gesamten Körper und Sina fühlte sich zum ersten Mal seit langem daheim.