Mit ihrer originellen Liebesgeschichte "Bergliebe" um das leidenschaftliche Begehren eines Berges holte die Autorin Angelika Wessels bei unserem Schreibwettbewerb "Liebe vor dem Alpenglühn" den zweiten Platz. Wir gratulieren.

BERGLIEBE

 

Ihre Hände tasteten über seinen Körper, der – sonnenerwärmt – unter ihrer kleinen, feingliedrigen Hand zu pulsieren schien. Sein Geruch, natürlich, wild und etwas süsslich, zugleich vertraut und noch immer von verlockender Fremdheit, erfüllte sie ganz.
Sie bewegte sich auf ihm, mit geübten, rhythmischen Bewegungen, die immer derselben Choreografie folgten. Der Fluss der Bewegungen riss sie mit, verbunden mit den vertrauten Gerüchen, mit den nahen und entfernteren, ihr ebenso vertrauten Geräuschen.
Jetzt das Anheben des linken Beines, während ihre Rechte suchend über die raue, schrundige Oberfläche seiner Haut strich, dann zugriff, zärtlich, sicher, fordernd. Dann das Setzen des linken Fusses, das Nachziehen des rechten in die kleine Vertiefung.
Nur nicht abrutschen jetzt; die Niederschläge der vergangenen Nacht hatten alles nass und rutschig gemacht. Er schien sie an sich zu ziehen, um ihre Sicherheit besorgt. „Er wird deinen Fuss nicht gleiten lassen“, dachte sie „Er ist dein Schatten über der rechten Hand.“
Schon packte sie seine struppigen Arme, die er ihr entgegenstreckte und die einen betäubenden, südländisch anmutenden Geruch verströmten. Die raue Rinde der Legföhren ritzte ihre weichen Handballen.
Aufatmend schwang sie sich über den Felsaufschwung. Ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit durchströmte sie. Die Bewegung, die Geräusche, die Gerüche, die Berührungen, alles verschmolz zu einem Moment grösster Erfüllung. Ringsum seine Herrlichkeit: die trockene Erde, das gelbgrüne Gras, die Silberdisteln, die hellen Kalksteine links und rechts des Pfades, die Legföhren, die Heidelbeerbüsche, der Blick hinab an beinahe weissen Schratten vorbei in die Tiefe, zum Bergweg, auf dem sie zuvor emporgestiegen war, zum Fahrsträsschen, das sich über die Ebene zog und das sich hinab in den ungewissen Dunst des Tals schlängelte. Weit unten die runde Bucht des Fählensees mit dem noch verlassenen Berggasthaus, das mit geschlossenen Läden ruhig dalag.
Er schenkte ihr einige fast ebene Tritte, stülpte zu beiden Seiten des Weges weiterhin seine Schönheiten aus: Die dichte Behaarung mit Wiesen, das schmückende Beiwerk der Blumen, die nackten felsigen Stellen. Zu seinen Füssen das leuchtende, fruchtbare Rheintal mit dem glänzenden Strom. Sein Haupt umkränzt von den nahen, hochaufragenden Bastionen der Kreuzberge zur Linken und den höchsten Alpsteingipfeln zur Rechten. Und vor ihr lag einladend sein begrünter Bauch, an den sie sich im Gehen schmiegen konnte, weich und leicht gewölbt, Obdach versprechend in den
Pockennarben seiner Dolinen, im Schatten seiner bärtigen Legföhren. Ein kleiner Tümpel als Auge, das in den Himmel sah, das sie aber, wenn sie sich ihm näherte, liebevoll musterte, mit blonden Wimpern aus trockenem Gras. Sein Herz aus Gestein, unsagbar alt, mit unentdeckten Hohlräumen, Erinnerungen, als Fossilien gespeichert, die an versteckten Stellen, die allein ihr bekannt waren, zutage traten, Träger von Botschaften aus seinem Innersten, nur ihr verständlich…
Wie sie ihn liebte!
Später lag sie auf seinem Rücken. Sie lagen vereint, eng umschlungen, in unendlichem Verständnis und sie spürte sein Dasein, seine Präsenz, die sie bei menschlichen Wesen aufs Schmerzlichste vermisste.
Erfüllt stieg sie von ihm ab, streichelte Abschied nehmend seine im Abendschatten langsam erkaltenden Flanken, legte ihre Handflächen auf seine kühlen Rundungen, bis diese sich langsam erwärmten.
Sie gab ihre Wärme, er gab seine Kraft.
Zu seinen Füssen hielt sie inne, auf der leeren, weiten Terrasse des Berggasthauses und blickte hinauf. Seine imponierende Gestalt, von zeitloser Schönheit. Wasser rann über die beinahe senkrechten, noch von den letzten Sonnenstrahlen beschienenen Felsabstürze, Rinnsale von Tränen auf seiner sonnengegerbten Haut. Ein Schauer überflog die nackte Haut ihrer Unterarme.
„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher wird mir Hilfe kommen?“ Wie magisch die Worte, wie wahr sie waren. Sie hob ihre Augen und die Hilfe kam. Sie war in Sicherheit, in der vollkommensten aller Sicherheiten, hier oben, allein, mit ihm, ihrem Berg-Geliebten.
Ein leichter Wind war aufgekommen, ein abendlicher Berg-Wind, der über den See strich, dessen Oberfläche er kräuselte. Keine Spur von der Struktur, einer Strasse ähnlich, auf dem See, die ein Anzeichen für schlechtes Wetter gewesen wäre. In den Hängen zwischen dem Hundstein und den Widderalpstöcken ästen Steinböcke. Sie bewegten sich langsam, sorgfältig auf der dünnen Grasnarbe, in den Geröllfeldern, durch die sich die Spuren der Kletterer zogen, auf den ausgewaschenen Felsen.
Wie sie sie beneidete!
Ein Steinbock zu sein, ein Adler, ein Murmeltier, eine Bergdohle... Hier sein und hier bleiben zu dürfen. Ihm ständig nahe zu sein. Zu ihm zu gehören, heimisch zu sein. Auch sie fühlte sich heimisch, heimisch auf Zeit. Dem Hiersein im Wissen um das Gehen müssen wohnte ein besonderer Zauber inne. Ein wehmütiger Genuss, den sie auskostete. Der Blick über den See, hinauf zum Gipfel des Altmann, zu den im Schatten liegenden, senkrechten Felswänden der Fälentürm, den Überhängen der Südabstürze des Hundsteins. Noch schien die Sonne auf die Terrasse, der Boden des Treppenabsatzes, auf dem sie sich niedergelassen hatte, war noch warm, das Metallgeländer, an dem sie sich einige Male hochzog, hingegen war kühl. Mehrmals stand sie auf, spazierte nach rechts, um den Abfluss des Sees zu betrachten, die Enten, die lautlos Wellen hinter sich herzogen, dann nach links, wo sich Gämsen als dunkle Punkte in der Wildheufläche weit oben über der Saxer Lücke abzeichneten. Immer, wenn sie sich wieder setzte, hatte die Sonne die hölzerne Platte, die die Terrassentüre im Winter abdeckte, von Neuem erwärmt.
Wie sie das alles genoss!
Bevor die Sonne den Grat berührte, holte sie sich ein kleines Fläschchen „Appenzeller“-Schnaps und drei einzeln verpackte Schokolade-Täfelchen aus einem Kästchen, das in der Zeit, in der das Gasthaus geschlossen war, vor dem überdachten Haupteingang am Ende der Treppe platziert war. Sie setzte sich wieder an die sonnenbeschiene Fassade über der Terrasse und liess die Schokolade auf der Zunge zergehen. Just als sie den letzten Schluck des Kräuterschnapses getrunken hatte, verschwand die Sonne hinter dem Grat. Sofort wurde es merklich kühler. Sie erhob sich, mit erst leichtem Bedauern, das in den Wunsch, noch ein wenig die Ruhe zu geniessen und dann in ein brennendes Verlangen, für immer hierzubleiben, überging.
Sie überwand sich, schulterte den Rucksack und schritt langsam die wenigen Treppenstufen hinab, durch die Öffnung im Holz-Hag hindurch auf den gekiesten Vorplatz, wo sie noch einmal stehenblieb,  bevor sie seufzend auf den breiten Fahrweg einbog, der schon vom Schatten ihres Geliebten bedeckt war, den sie nun hinter sich wusste, gross und schwer; er schien in ihrem Rücken zu lächeln. Mehrmals noch wandte sie sich um, seine ernste, dunkel gewordene Gestalt in sich aufnehmend, das Bild bewundernd, das sein breiter Rücken als gerade Schattenlinie auf dem goldenen Kranz der Kreuzberg-Krone hinterliess.
Ein letzter Blick, bevor sie in den steilen, aber anheimelnden Abgrund des Brüeltobels eintauchte. Es dämmerte schon. Sie eilte, hüpfte, sprang den teilweise mit grobem Schotter bedeckten Fahrweg hinab, in Gedanken schon beim nächsten Mal, beim nächsten Aufstieg, beim nächsten Zusammensein.

Als sie im Halbdunkel, noch immer von Hitze und Begeisterung durchdrungen, zuhause anlangte, wartete ihr menschlicher Geliebter vor dem Haus, hingegossen auf die kleine Holzbank, ein überraschender Gast. Wie romantisch, sagte ihr Verstand, und was für ein attraktiver Mann er ist. Ihr Gefühl jedoch meldete sich nicht, hing in den Eindrücken und Erfahrungen des Tages fest.
Ihre vage Entschuldigung mit der Müdigkeit nach der langen, anstrengenden Bergtour vermochte ihn nicht zu überzeugen, sie sah seine Enttäuschung, es war ihr egal. Auch dass er ging, ohne weitere Fragen zu stellen. Erst als er längst fort war, entdeckte sie das Geschenk: Einen St. Galler Biber mit Fotoaufdruck der Kathedrale und einem Zettel, auf dem stand, dass sein Zuhause direkt hinter dem Gotteshaus läge und ihr stets offen stünde.

Der Psychiater, der anfangs müde gewirkt hatte, schien nun hellwach und elektrisiert, sah ihr direkt in die Augen. Aus seinem Blick sprach ernsthaftes Interesse, gar Neugier. Geduldig hörte er zu, unterbrach sie kaum, abgesehen von fragenden Lauten oder aufmunternden Füllwörtern, die nur dazu dienten, ihrem Redefluss zu strukturieren und zu unterstützen.
Als sie, erschöpft vom Hervorrufen der Erinnerungen und ihrer starken Gefühle, geendet hatte, atmete er hörbar auf. „Sie sind damit nicht alleine“, konstatierte er nüchtern „Allerdings kenne ich Fälle wie den Ihren nur aus der Literatur; vielleicht haben Sie auch, es ist schon einige Zeit her, von der Frau gelesen, die eine libidinöse Beziehung zur Bodensee-Fähre „Euregia“ unterhielt? Es stand, so glaube ich mich zu erinnern, im „St. Galler Tagblatt“. Objektophilie, also Liebe zu Gegenständen oder Objektsexualität, so nennt man das. Eine besondere, sehr seltene, noch wenig erforschte Form der Sexualität… Manche Fachleute halten es für eine Spielart des Fetischismus, doch vor allem Betroffene weisen dies zurück. Sie sehen dies als reine Variante der sexuellen Ausrichtung, vergleichbar mit der Einteilung in Homo und Hetero. Solange Sie nicht darunter leiden, solange niemand anderer darunter leidet, sehe ich weder ein Problem noch die Notwendigkeit einer Therapie. Nur dann sähe ich eine Behandlungsbedürftigkeit als gegeben an. Der Herrgott hat einen grossen Tiergarten, das kann ich Ihnen auch sagen. Was meinen Sie dazu?“

„Du liebst also einen Berg? Verstehe ich das jetzt richtig?“, fragte ihr menschlicher Geliebter beim nächsten Treffen, weit entfernt von Verständnis und Empathie. Da war nur seine gekränkte männliche Eitelkeit.
Eigentlich war es der Versuch mit ihm nicht wert gewesen. Sie hatte sich lediglich dazu verpflichtet gefühlt. So, wie sie sich als Kind dazu verpflichtet gefühlt hatte, alle Esswaren zumindest zu versuchen, bevor sie ihr Urteil fällte und sich dazu legitimiert sah, deren Konsum danach zu verweigern.
Seine Enttäuschung überwog, er stand vor ihr, wortlos, offenbar hilflos, eine grosse Ohnmacht sprach aus seinem Gesichtsausdruck, seiner Körperhaltung.
Für einen Augenblick stellte sie sich vor, wie er seinem Konkurrenten gegenübertreten würde, um um sie zu kämpfen, auf verlorenem Posten gegen den übermächtigen Gegner. Die Vorstellung rührte und erregte sie für einen Augenblick. David gegen Goliath, der Kleine, Schwache gegen den übermächtig Grossen, der Durchschnittliche gegen den Ausserordentlichen. Die Vorstellung wurde langweilig, verlor schnell ihren Reiz, verblasste schliesslich ganz.
Alles Menschliche verblasste in der Gegenwart ihrer grossen Liebe. Wieder nahm sie gar nicht wahr, dass er, der Mensch, gegangen war, lautlos, und dieses Mal, ohne etwas zurückzulassen.
Sie vermisste ihn, den Mann, nicht, auch nicht im Winter, der lang war und schneereich, doch sie vermisste die Nähe, die Berührung des Berges. Sie wollte im nah sein, doch er wies sie ab mit seinen hartgefrorenen Flanken. Von ferne nur liess er sich betrachten. Zärtlich verfolgte sie von den Gipfeln und Gasthausterrassen der Umgebung den Schwung seines Grates, suchte sich Plätze, von denen aus sie ihn sehen, betrachten, mit Blicken liebkosen konnte. Wenn es das Wetter und die Schneeverhältnisse zuliessen, pilgerte sie zu ihm, liess sich zu seinen Füssen nieder. Seine Gefährten, die umgebenden Berge, standen da wie Freunde, bekannte und geliebte Geschwister, unendlich vertraut mit seinen Hängen, Wänden und Schründen. Friedvoll und sicher standen sie da, fest verankert, durch nichts zu erschüttern, voll Gleichmut und unberührt, gleissende Neuschneeflächen im Gegenlicht. Weiss wie die frische Schminke eines Clowns, wie frisch geschlagener Eischnee. An den Hängen das Gluckern der Birkhühner, unter dem Schnee schliefen die Murmeltiere dem Frühling entgegen. Die Hänge zu ihrer Rechten waren schwarz gegen die zunehmend an Stärke gewinnende Sonne. Über den Fälensee führte schnurgerade eine Skispur, wand sich dann weiter, sich in den Hängen darüber verlierend.

Beim nächsten Mal das Donnern des Föhnwinds in den Felsen. Böen prallten an ihre rechte Schulter, als sie in einer der Fensteröffnungen des noch geschlossenen Bergasthauses sass, sich geborgen und zu Hause fühlend. Ringsum nur das Brausen des Windes und die rasend schöne Natur. Wessen gemaltes Weiss konnte je die Leuchtkraft des schmelzenden Schnees erreichen. Wessen Symphonie kam der Virtuosität der Windgeräusche gleich?
Ein Vers eines Gedichtes kroch in ihre Gedanken und liess sich nieder, regelmässig auftauchend, passend: „Tand, Tand, ist das Werk von Menschenhand“. Fontanes Winde, die die Brücke am Tay zerstörten. Wie klein waren doch der Mensch und seine Werke – und zuletzt: wie uninteressant!
Tief spürte sie die Gnade des Daseins, des schauen Könnens, des Erkennens und des Empfindens.

Endlich war der Schnee geschmolzen, vom Eise befreit der See, die Wege und Steige. Das Verlangen nach ihm, nach seiner Nähe, seinen Gerüchen, seiner felsigen Haut war übermächtig geworden. Sie konnte es kaum erwarten, ihm wieder nahe zu sein. Der Gedanke daran, ihm noch einen Winter fern bleiben zu müssen, war ihr unerträglich. Sie wollte bei ihm sein und bei ihm bleiben.
Als der Tag gekommen war, packte sie in erwartungsfroher Eile, den Rucksack, der noch immer ein wenig nach ihm roch, nach seinem Körper, erdig, mit einem Hauch von scharfem Wildtier-Dung. Den Schlafsack und die Isoliermatte, Zusätzliches brauchte sie nicht. Sorgsam schloss sie die Haustüre ab und sah nach Süden, dorthin, wo er auf sie wartete, hinter der nächsten Bergkette, entfernt zwar, aber doch so nah. Sie eilte davon, über frisch gegüllte Wiesen, sie hüpfte wie ein Mädchen, Schmetterlinge im Bauch.
Ja, verliebt war sie, und ihre Liebe hatte sogar einen Namen. „Was meinen Sie dazu?“, hatte sie der Psychiater gefragt, nachdem er sie mit der Diagnose konfrontiert hatte. Sie litt nicht, nicht im Geringsten. Ihr menschlicher Geliebter wohl, der hatte gelitten, aber sie war ihm in keiner Weise verpflichtet, war ihm weder formell noch informell verbunden; sie waren beide frei gewesen, so frei, wie sie jetzt war, als sie in das nahe Wäldchen eintauchte. Die grosse Freiheit, zu gehen, wohin sie wollte. Die grosse Freiheit, sich ihm zu nähern, so, wie sie wollte und wann sie wollte.
Und sie näherte sich ihm, in freudiger Erwartung, den Weg lustvoll noch etwas verlängernd, den Menschen, die ihr begegneten und die sie fragten, ob sie draussen schlafen wolle, mit Nachsicht antwortend. Schon fühlte sie sich nicht mehr als ihresgleichen, schon waren sie ihr alle so fremd. Es ging schon gegen den Abend. Der Himmel war von kleinen Quellwolken bedeckt, deren erst weisse Farbe zunehmend ins Rosarote überging.
Sie erreichte die weiten Alpflächen, von denen aus er das erste Mal zu sehen war. Seine Flanken leuchteten im Abendrot. Rot gefärbt waren all seine Nachbarn, der Himmel schien zu brennen, ein loderndes Feuer, das ihre Leidenschaft zusätzlich entflammte, das ihr Verlangen entzündete. Da stand er und wartete auf sie. Und sie war unterwegs zu ihm. Unterwegs, vorbei an dunkelgrünen Wettertannen, an spriessenden Alpenblumen, an Brunnen mit eiskaltem Wasser. Der Sämtisersee spiegelte den roten Himmel, seine steinigen Ufer waren trocken. Leicht war ihr Schritt. Sie sog den Geruch nach Wasser und Algen ein, lauschte dem leisen Plätschern der feinen Wellen, die ans Ufer schlugen, stieg felsige Tritte hinauf und wieder hinab, der Weg ging ins Gras über, wurde feucht, dann wieder trocken. Auf dem Fahrweg schritt sie wiederum beschwingt aus. Vor ihr stand er, von vollkommener Gestalt, mit seinen entzündeten Felswänden, rotwangig, womöglich beschämt von ihren Gedanken. Durch lichten Wald wand sich der Fahrweg über eine weite Ebene, beschallt von den feinen Glöckchen der Ziegen, die schon auf der Alp weilten. Dann erreichte sie die letzte, weite Fläche, liess die letzten Behausungen für Tiere und Menschen hinter sich, stieg den sich in weiten Serpentinen den Hang hinauf windenden Bergweg in die Lücke, wo sie aufatmend abbog auf den schmalen, heimlichen Pfad, der steil empor über den Hang führte. Langes Gras säumte ihn, in den Felsen blühten gelbe Aurikeln, an denen sie verzückt roch. Endlich die kurze Kletterstelle, die vertrauten Griffe, der feste, raue Fels, die duftenden Legföhren. Sie begrüsste jeden Tritt und jeden Griff wie alte Bekannte, blickte aus einer Scharte hinunter auf das schon im abendlichen Schatten liegende Berggasthaus. Ihre Hände tasteten über die Felsen am Rand des Weges, berührten die Äste der Legföhren, ihre Füsse umgingen die Ameisen, die Schnecken, die Silberdisteln; sorgsam, bewusst bewegte sie sich höher und höher. Eine kleine Bresche überwand sie mit geübtem Schwung, wechselte mit dem Weglein mehrfach die Richtung, querte unter einem grossen Geröllfeld den Hang, streichelte den alten, vergessenen Hag-Pfahl, die letzten, kleinen Legföhren und niedrig gewachsenen Tännlein. Erdige Tritte führten sie auf die gestufte Hochebene, führten sie an die Sonne, die ihr Gesicht wärmte, die wieder den geraden Schattenriss an die gegenüberliegenden Felswände der Kreuzberge warf, so schön geschwungen, so perfekt, dass sie aufseufzen musste. Das kurze Gras, die Büsche von Alpenrosen, die vereinzelt wachsenden, saftig grünen Stängel des Gelben Enzians, der Felsaufschwung mit dem Drahtseil und der zerfallenden, niedrigen Mauer, der kleine, blond bewimperte Augen-Tümpel mit den Felszacken der Kreuzberge dahinter, der erst leicht, dann stärker ansteigende letzte Grat mit dem auffälligen Muster der Schaftritte, endlich der Steinmann, der von weither sichtbar war, vom Gäbris, vom Hohen Hirschberg, vom Säntis…
Sie war angekommen und er hiess sie willkommen mit all seinen Schönheiten und mit der Wärme der letzten Sonnenstrahlen. Weit unten glitzerte noch der Rhein, auf den gegenüberliegenden Hängen lag noch der Abglanz des Abendlichts, die höchsten Gipfel im Osten leuchteten noch, der schmale Schneegrat des Biancogrates, die ebenmässige Pyramide der Schesaplana, das breite Trapez des Piz Kesch. Im Tal unten gingen Lichter an, auf dem Bandwurm der Autobahn folgten die sich sanft fortbewegenden Scheinwerfer ihrem vorgegebenen Weg, die Umrisse der Berge wurden undeutlicher, das letzte Licht am westlichen Himmel verglomm, die Sterne und der zunehmende Mond traten hervor, beleuchteten sanft die nähere Umgebung, während der weitere Umkreis von der Nacht verschluckt wurde.
Wie sie sich freute!
Sie freute sich darüber, hier zu sein. Sie freute sich darauf, hier bleiben zu dürfen. Was sollte sie in der Welt der Menschen? Sie war entkommen, gerettet, sie hatte das Wesentliche erkannt: Wie sinnlos es für sie war, sich an Menschen zu binden. Sie sah sie, die ihr so fremde Menschheit, getrieben und egozentrisch, nicht erkennend, dass sie nur ein Anhängsel war, ein Wurmfortsatz, ohne jede Funktion in der Natur. Verzichtbar. Wie anders war doch er, der Berg, nicht ewig, das nicht, aber doch wahr und erhaben.

Der Boden war weich, von samtenem Grün, er empfing sie mit offenen Armen. Sein Geruch, der weiche Griff, mit dem er ihre Glieder umfing. Die Kühle der Nacht, nur abgeschirmt durch Matte und Schlafsack, eine willkommene Erfrischung von diesem schon warmen Maientag. Unter ihnen das Lichtermeer des Rheintals, hinter ihnen, einsam schwebend, die Lichter des Säntis, des Berggasthauses und die beiden roten Lichter der hohen Antenne, das obere stetig blinkend, ein fremdartiges Zeichen menschlicher Anwesenheit. Rund herum die dunklen Bergflächen in ernsthaftem Warten. Worauf warteten sie?

Dies war der Moment: Sie spürte sein Locken, sein Fragen. Da war kein Zögern. Als Trauzeugen bereit: Der Mond und die Sterne. Kein weisses Kleid, dafür die Bergkleider und der Rucksack auf ihrem Rücken. Hochaufgerichtet stand sie nun da, reisebereit, in völliger Hingabe.
Dann führte er sie heim, in aller Selbstverständlichkeit. Er nahm sie bei der Hand, sanft, sie folgte ihm ohne zu zögern, endlich vereint.