Mit ihrer berührenden Liebesgeschichte "Zauberbergsommer" holte die Autorin Karolin Hofer bei unserem Schreibwettbewerb "Liebe vor dem Alpenglühn" den ersten Platz. Wir gratulieren.

Zauberbergsommer

 

Gleichmäßig durchdringen sanfte Wellen das Spiegelbild der Berge auf der Wasseroberfläche. Der See strahlt eine unfassbare Ruhe aus. Allein meine Fußspitzen lassen das sonst so klare Abbild der Landschaft wanken. Ebenso mein eigenes.
Es ist Sommer. Die Sonne scheint und die Menschen wandern. Hier in Davos. Wie jedes Jahr. Nur Paul fehlt. Dabei habe ich es von Anfang an gewusst. Es sollte nicht für immer sein. Darf man Beziehungen eingehen, die keine Zukunft haben? Über denen von Anfang an der Stern der Endlichkeit steht? Wieviel Energie vermag ein Mensch in eine Liebe zu investieren, die aussichtslos scheint?
Paul. Eine Art Sommerliebe. Begonnen hat die Liaison zwischen uns im Sommer vor drei Jahren. Eigentlich hatten wir auch immer nur einen Monat. Zeit um beieinander zu sein, das Leben gemeinsam zu leben. Dreißig Tage jedes Jahr.
Es gibt Menschen, die unsere Beziehung als kurzlebigen Urlaubsflirt betitelt haben. Mag sein, es verleiht dem Ganzen zumindest eine gewisse Leichtigkeit. Nun sitze ich allein da. Am Steg, am Davoser See. Wie eigentlich immer zum Ende des Sommers.
Jedes Jahr im Juni begann unsere Zeit. Die begrenzte, gemeinsame Zeit. Der Rest des Jahres war erfüllt von Vorfreude. Auf diese Momente, die Gespräche mit Paul. Kein Skype und kein Treffen in Deutschland können diese Momente herzaubern.
Nun ist es vorbei. Einfach so. Einsamkeit erhält Einzug. Aber darf so etwas Einzigartiges einfach so enden?
Wir hatten uns unsere eigene Welt geschaffen. Magische Momente. Zauberbergmomente. Hier unten am See, auf dem Steg.
Diese unglaubliche Stimmung der Alpen. Die des Alpengühns. Es ist nicht Tag, es ist nicht Nacht. Es ist etwas dazwischen. Voller Hoffnung und gespannter Erwartung auf das, was kommen mag. Die Wanderer warten auf den neuen Tag. Die Party-Gäste sehnen sich nach der Nacht. Nur wenige haben das Gespür für die Zeit dazwischen. Dabei braucht es diese manchmal so dringend, um sich zu erden. Alpenglühn. Momente, in denen das eine zu Ende geht und Hoffnung auf Neues aufkommt. Ich liebe ihn. Diesen Moment. Und Paul. Es ist magisch, beides zusammen zu erleben.
Eine nicht klar abgrenzbare Zeit, in der es weder Tag noch Nacht ist. Man abends weiß, dass die Sonne untergeht, sie aber noch nicht untergegangen ist. Man der Natur die Entscheidung überlässt, ob die Sonne am nächsten Tag wieder aufgeht. Alles gut wird.
Wir waren anders, als alle anderen Menschen hier in Davos. Haben unser Leben gelebt. Den Zustand dazwischen genossen. Er birgt Besonderes in sich. Nichts Absolutes. Der Moment, in den alles auf der Kippe zu stehen scheint.
Wir haben jeden tag gelebt. Haben Ausflüge gemacht. Viel im Café gesessen und über das Leben philosophiert. Ganz so, als seien wir sechzig, statt dreißig Jahre alt.
Doch welchen Stellenwert nehmen Alter und Zukunftspläne in unserem Leben ein? Manchmal leben wir mehr in der Zukunft, als im Augenblick. Ich beobachte die Menschen hier. Sie nehmen das Alpenglühen nicht wahr. Sie sind auf dem Weg zum Frühstück oder zum Abendessen. Voller Pläne für die nächsten Stunden. Ohne eine Ahnung, wie viele es noch geben wird. Und ohne diesen Umstand zu schätzen.
 Wir hatten ihn oft geprobt. Ihm Raum gegeben. Dem Abschied. Bei jedem Alpenglühn vorgestellt. Uns so fest in den Armen gehalten, dass niemand gehen konnte. Doch es war uns immer klar. Dass einer der erste sein wird.
Davos. Einfach schicksalhaft. Wir haben es geliebt. Die Entwicklung aufgesogen, den dieser Ort gemacht hat. Den die Menschen an diesem Ort gemacht haben. Heute ist es ein zwiegespaltener Wallfahrtort. Morbide und elegant zugleich. Gegensätze, wie sie nirgendwo anders zu finden sind.
Gegensätzlich. All die Patienten, die sich durch Wehleidigkeit und Krankheit mit dem Zauberberg verbunden fühlen. All diejenigen, die dies befeuern. Mitleidige Blicke, Separation von Krank und Gesund. Arm und reich. Hypochonder, Todkranke und Gesunde. In pausenloser Konkurrenz. Dann die mondänen Touristen, die gesehen werden wollen. Sich abheben und abheben wollen. Beide Gruppen pflegen Liegekuren als Daseinsberechtigung.
Auch wir gehörten irgendwie dazu. Paul und ich. Wir hatten unsere eigene Zeitrechnung und so viel nachzuholen, uns so viel zu geben. Die Tage mit Paul waren die schönsten, die ich je hatte. Haben werde. Tage voller Liebe, fünf Sommer lang auf Wolke sieben. Die Geschichte von Paul und mir war einfach wie ein Traum. Nur wir beide. Man sieht den anderen in Situationen, in denen er sich kaum schützen kann. Das verbindet. Ich habe einen Kloß im Hals, kann die Tränen nicht zurückhalten. Sehe sein Lächeln vor mir. Ich habe ihn geliebt. Hier am Steg haben wir gelegen, auf die rot glühenden Berggipfel geschaut und unsere Pläne geteilt. Ich schließe die Augen. Spüre Pauls Wärme, fühle mich geborgen in seinen Armen. Wir sprechen kaum, genießen den Augenblick. Einfach alles. Glücklich, dass wir uns gefunden haben, macht uns glücklich. Sich schwach zu zeigen, die eigene Verletzlichkeit Preis zu geben – das ist Liebe. Diese eine, so schwere Nacht nicht allein verbringen zu müssen. Wir liegen einfach da. Hören dieses Lied. Immer wieder. Wir waren stolz, gerade weil wir es gebrochen haben. Gerade WEIL wir 100% von uns gegeben haben, gibt es nichts zu bereuen. Die letzten Tage voll ausgekostet. Liebe geht nur ganz oder gar nicht. Sonst ist es keine. Je größer sie allerdings wird, umso stärker wird auch die Angst vor dem Ende. Mit jedem schönen Moment kommt irgendwann die Wehmut, dass es nicht für ewig so bleibt.
Immer wieder merke ich, welch ein großes Geschenk es ist, hier sein zu dürfen. Hier, an diesem zeitlosen, wunderbaren Ort. Doch alles, was gerade schön ist, bringt den Schmerz mit, dass Paul nicht da sein kann. Jeder wunderbare Moment ist doppelt schmerzhaft, weil ihn der Mensch, der es am meisten verdient, am stärksten gekämpft hat, nicht da ist. Ihn nicht erleben kann.
Gleich beginnt sie. Unsere Zeit. Das erste Alpenglühn ohne Paul. Seit fünf Jahren.
Wir waren Patienten. Mukoviszidose. Lebenserwartung dreißig Jahre. Ich werde weiter kämpfen. Genau wie Paul. Mir bleibt nicht viel Zeit. Ich blicke in die Sterne, Paul ist so unendlich weit weg. Und doch scheint er da zu sein, weil wir sie hatten. Diese Momente. Zwischen Leben und Tod. Er hat sie mir geschenkt.
Paul ist heute in den frühen Morgenstunden in meinen Armen gestorben. Ich kämpfe noch. Gebe 100%. Wie immer.
Eines haben Paul und ich uns versprochen. Weiter zu machen. Mut zu machen. Wenn einer geht, dann muss der andere allen Menschen vom Wunder des Lebens erzählen. Vielleicht war es gerade die Stimmung. Zwischen Tag und Nacht. Leben und Tod. Die uns vereint hat. Und die Tatsache, dass wir uns dieser Gratwanderung bewusst waren. Mit dieser, unserer Geschichte. Vielleicht gelingt es auf diesem Weg.  Begreiflich zu machen, dass das Leben gelebt werden will. jetzt. Und die Zeit dazwischen zu nutzen.