Mit "Murmeltiertage" gewinnt Sabine Frambach unseren Schreibwettbewerb "2100". Wir gratulieren!

Akiyama! Um ein Edelweiß zu sehen, musst du hoch hinauf. Trotz der Sonne fühlt sich die Haut kalt an. Achte darauf, auf dem Weg zu bleiben. Mit jedem Schritt verschwindet das Unten, mit der Anstrengung verblassen die Bilder. Was bleibt, ist die Sonne auf der Haut, der aufgeregte Puls, der schmale Weg, der Geruch nach Harz im Wind. Im Schutzgebiet werden die Wege abgesichert, die Hänge gestützt, die Lawinen kontrolliert, das Wasser stürzt hinab, reißt einen Teil des Berges mit sich, das Wasser schwillt an, frisst sich durch Gestein, prasselt hinunter. Im Schutzgebiet darf es prasseln und fluten und grollen und toben. Der Weg bleibt, und du bleibst auf dem Weg. Nichts klingelt, brüllt, schallt, was du hörst, gehört hierhin. Gehe noch höher, bis du inmitten einer Felsspalte aus der Ferne die Blume siehst, das Versprechen einer ewigen Liebe. Ruhe dich aus. Nimm aus dem Rucksack etwas Wasser und einen Kanten Brot, es schmeckt nach Kümmel und Käse, trink, selbst das Wasser schmeckt, als sei die Kuppe des Bergs geschmolzen. Schau dir die Blume an, deine Augen machen ein Foto davon, und du kannst es später erzählen, du hast eine entdeckt.
Wenn auch die Worte geschrieben sind:
Nicht pflückt die Blüten, sind lebend Wesen.
Du kennst dieses Gedicht.
Das Pflücken ist verboten. Für dich müsste es nicht verboten sein, du weißt, dass die Blume ihre Schönheit verliert, sobald du sie berührst, ihr Wert besteht darin, dass sie hier oben bleibt und du mit der Erinnerung an sie den Berg wieder ins Tal zurückkehrst.

Nami verlässt den Weg.
Sie reckt die Handschuhe, dreht sich kurz um, die Drohne schwebt über ihr. Abseits des Weges schlittert Nami über Geröll, rutscht weg, rudert mit den Armen. Weiter, sie muss weiter, vor ihr wartet die Wand aus Stein. Nami tastet mit den Handschuhen darüber, blickt auf, sucht den Felsen nach Vorsprüngen ab, nach Kanten; im nächsten Moment presst sie ihren Körper an den Stein, lehnt sich an, die Schuhe treten dagegen, die Handschuhe tasten nach irgendeinem Halt. Niemals hinabschauen. So weit wie möglich reckt sie die Hand, greift nach einem Vorsprung, löst die Schuhe, hängt nur noch mit den Fingerspitzen am Felsen, schwingt, bis sie die Lücke findet, um mit dem Gestein zu verschmelzen. Noch ein Stück, höher, die Kraft schwindet, sie wuchtet sich hinauf, mehr Wille als Muskel. Bis sie es sieht. Eine kleine Blume, weiß und zart, das Versprechen einer ewigen Liebe. Meins, denkt Nami, streckt die Hand aus, rutscht ab, fängt sich auf, drückt sich weiter hinauf, erreicht die Blume, zwei Finger, sie zupft, rupft, reißt, ihr Edelweiß. 5 000 Punkte.

Akiyama! Du siehst den fast vergessenen Schnee. Hier oben lauert die Schicht, die kleiner wurde, je länger wir zusahen. Dieses Weiß schmerzt in den Augen, die Sonne schmilzt darin. Der Schnee der Berge wie das Wasser in uns, das Weiß verbirgt nichts als Stein. Hier oben findest du die letzte Kolonie. Die Murmeltiere finden dort oben ihren Platz, doch der Boden ist verdichtet und steinig, sie können ihre Löcher nicht mehr graben. Sei leise wie Schnee, der auf Kiefern fällt, und du hörst sie rufen, sie warnen sich, pfeifen sich zu, huschen miteinander vorüber, sie ringen, balgen, nagen das spärliche Grün.
Wenn du diese Nacht in deiner winzigen Koje verbringst, bewacht vom Berg, bedeckt vom Schnee, umringt vom Ruf des Murmeltiers, weißt du, wie laut die Stille ist.
Nicht pflückt die Blüten, sind lebend Wesen.
Die Zeichen vermögen nichts gegen den Wind ...

Um ein Murmeltier zu fangen, muss Nami sehr hoch hinauf, eine Falle basteln, sie scharf stellen und den Tieren auflauern. Sie lehnt sich gegen den ewigen Stein, winkt die Drohne heran und entnimmt einen Riegel. Energiehaushalt bei 63 %. Nami kaut, während sie über die Falle nachdenkt. Was hat sie bei sich? Ein Seil. Ein Seil genügt nicht. Sie könnte eine Lebendfalle bauen, doch welchen Köder hätte sie? Nami betrachtet ihre Ausrüstung in der Drohne nochmals. Eine Decke, ein Seil, ein Messer, Energieriegel, Wasser, Erste-Hilfe-Set. Vielleicht konnte sie als Köder etwas in der Gegend finden?
Nami schleicht über die Wiese, aufmerksam mustert sie den Boden. An einer Stelle ist der Boden aufgewühlt und mit Erde bedeckt. Sicherlich der Eingang zu der Höhle eines Murmeltiers. Direkt davor legt Nami die Decke, knotet an die Enden das Seil und verbindet es mit der Drohne, die sie über der Decke schweben lässt. Es fehlt der Köder. Nami sucht Wurzeln, Alpenklee und Bergwegerich, wählt die zarten Triebe und trägt sie zur Decke. Nun hockt sie hinter dem Felsen und wartet. Ihr Hals ist trocken, doch sie kann jetzt nicht trinken, sie bewegt sich nicht, atmet gleichmäßig und wartet.
Kurz darauf huscht ein Murmeltier heran, verharrt, stellt sich auf, schaut sich um, ehe es sich der Decke nähert. Nami beißt sich auf die Lippe. Tatsächlich, das Tier kriecht näher, bleibt vor dem Köder hocken und beginnt zu fressen. Nami reckt die Hand rasch in die Höhe, die Drohne steigt auf, das Seil zieht zu, und über dem Boden schwebt die zusammengezurrte Decke, in der ein Murmeltier strampelt.
Ein lebendes Murmeltier. 11 000 Punkte. Sie kann es abrichten oder verkaufen; das Fleisch kann gegessen werden, und das Fett des Tiers hilft als Salbe bei Gelenkschmerzen.
Nami schaut auf. Wie hingeworfen ziehen Wolken auf, trudeln über den Himmel, bringen Kälte mit, wolkenweiße Kälte. Es schneit. Die ersten Kristalle schmelzen auf Namis Wimpern, die nächsten trudeln um ihre Nase, gesiebter Schnee, schon bedeckt er den grünen Boden, pudert die Berge und lähmt Namis Glieder. Sie muss zurück, so schnell wie möglich! Sie stapft vorwärts, immer höher muss sie die Beine heben, über den Schnee, aus dem Schnee, während die Kälte an ihr zerrt. Nami ruft die Karte auf; vielleicht entdeckt sie in der Nähe einen Unterschlupf? Tatsächlich ist eine verlassene Hütte nicht weit von ihr abgebildet. Nami wählt diese als Zielpunkt, zieht sich das Tuch über die Nase und folgt der Drohne. Im tanzenden Weiß sieht sie kaum noch etwas. Ein Schritt vor, noch ein Schritt, Schritt für Schritt. Als sie glaubt, ihre Kraft im taumelnden Schnee verloren zu haben, entdeckt sie vor sich die alte Hütte.
Schlurfend geht sie die letzten Schritte, lehnt sich an, fasst den Griff, zerrt an ihm, die Tür gibt so leicht nach, dass Nami nach hinten kippt. Unverschlossen. Nami tritt ein.
In der Hütte wabert ein Feuer. Es riecht nach Holz, vielleicht durch die knisternden Scheite, vielleicht durch die Möbel, den Boden, alles ist aus Holz, trockenes, warmes Holz, gelbweiches Licht, knarrende Dielen. Nami betrachtet zwei Fotografien auf dem Kaminsims. Ein alter Mann vor der Hütte, ein Mädchen mit einer Ziege im Arm. Wer diese Leute wohl sind? Oder wer sie waren? Die Fotografien sind gewiss sehr alt, sie verändern sich nicht wie die üblichen Holos.
In einer Kommode findet Nami Tischdecken und Kissenbezüge. Noch interessanter ist das, was sie im hinteren Raum entdeckt. Ein Paar Skier mit Stöcken und passende Stiefel. Es ist so weit.
Nami sucht mit der Drohne die mögliche Abfahrt. Keine Bäume, keine Klippen oder versteckte Felsspalten. Feiner Schnee, stabiler Grund, die Sonne glitzert. Ich bin soweit. Sie legt die Skier hin, schlüpft in die Stiefel, ihre Schuhe gibt sie in die Drohne. Mit beiden Händen hält sie die Stöcke, schaut geradeaus. Nicht hinunterschauen. Mit gebeugten Knien stößt sie sich ab und fliegt, sie glaubt zu fliegen, sie schwebt, schneidender Wind, flirrendes Licht, immer schneller wird sie, verlagert das Gewicht, links, rechts, ein Rhythmus entsteht, und der Rhythmus bremst, sie gleitet voran, vorbei, voraus. Schon erkennt sie den Holzbau im Tal, hält sich seitlich und bremst ab. Skifahrt ohne Sturz: 16 000 Punkte.

Akiyama beendet die Wanderführung. Angenehm, diese Stimme, Akiyama konnte den Stil wählen und eigene Interessen zufügen, selbst Zitate oder ein Gedicht kann sie eingeben, sodass die Führung persönlich ist. Das Gerät hat ihr den Weg sicher gezeigt, ihre Position in den Bergen registriert und hätte sie bei einem Wetterumschwung gewarnt. Das Mittragen eines solchen Smart Leaders ist Pflicht, wenn man alleine losgeht. Seitdem gibt es kaum noch Todesfälle. Akiyama lässt die Stiefel vor der Hütte stehen; zum Essen zieht sie Schlappen an. Die Hütte hat sie für die gesamten Murmeltiertage für sich und ihre Tochter gebucht, sehr klein, aber sauber und gemütlich. Im Dorf inmitten der einzelnen Hütten befinden sich die Restaurants, Lebensmittelläden und Souvenirstationen. Akiyama freut sich bereits auf das Essen. Es soll Spinatknödel mit brauner Butter geben, es klingt köstlich.
»Nami?«
Keine Antwort. Das Mädchen hat sich geweigert, mit ihr wandern zu gehen. Wo steckt sie nur?
»Nami?«
Im Raum neben den Schlafkojen entdeckt sie die Tochter, sie steht da, das Visier vor dem Gesicht, die Handschuhe übergestreift, die Knöpfe im Ohr, und schwingt mit dem Körper, geht in die Knie.
»Nami!«
Nami rudert mit den Armen, richtet sich auf und zieht die Knöpfe aus den Ohren, klappt das Visier auf und grinst. »Schon zurück?«
»Ja.« Akiyama sucht die Schläppchen und schlüpft hinein. »Ich wollte etwas essen gehen. Warst du den ganzen Tag hier drin?«
Nami kichert, steift die Handschuhe ab und legt sie auf die Konsole. »Ich war hier drin. Schließlich hast du Murmeltiertage gebucht. Und Murmeltiere bleiben gerne in der Höhle. Außerdem habe ich mich in die Alp-e gehängt. Du, diese Anwendung ist steil. Das haben sie super hingekriegt. Die komplette Umgebung ist erfasst. Ich bin Ski gefahren! Und ein Murmeltier habe ich gefangen. Es ist richtig echt.«
Akiyama lächelt. »Du warst also den ganzen Tag hier drin. Ich war in den echten Bergen«, meint sie. »Sogar ein Edelweiß habe ich gesehen.«
Nami grinst. »Ich habe eins gepflückt. Bringt 5 000 Punkte.«
»Nicht pflückt die Blüten, sind lebend Wesen!« Akiyama hält die Tür zur Hütte auf, lässt ihre Tochter vorbei und schlendert in Richtung des Dorfes.
Und Nami schreitet voran, während sie mit wissender Miene und einer Hand auf der Brust doziert: »Die Zeichen vermögen nichts gegen den Wind, denn der Wind kann nicht lesen.«