Hungersnöte greifen wieder um sich. Auch der Alpenraum ist traditionell verletzlich, obwohl viele Menschen ihre Nahrungsmittel selber produzierten oder produzieren. Hier entscheidet das Klima über Festlaune oder drückende Armut. Deutlich wurde das in der Hungersnot vor 200 Jahren.

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Hungertafel um 1825 von Johannes B. Thäler (Quelle: Historisches u. Völkerkundemuseum St. Gallen)

Als im August 1817 das erst voll beladene Kornschiff in Rorschach SG anlegte, bescherten ihm die Ostschweizer einen triumphalen Empfang. Es markierte den Anfang vom Ende der Hungerkrise und den Anfang der Lehren, die daraus gezogen werden sollte. Es gibt Parallelen zum Umgang mit Viren. Denn 1817 wurde klar, dass der vom Vulkanausbruch des Tambora in Indonesien verursachte Klimawandel die Menschen völlig unvorbereitet traf. Kein Wunder: Die Wucht des Ausbruch 1815 mit einer Kraft von etwa 400‘000 Hiroshima-Atombomben, veränderte das Klima auf der nördlichen Hemisphäre mehr als ein Jahr. In höheren Lagen über 800 Meter über Meer schneite es in den Sommermonaten 1816 mehr als ein Dutzend Mal. Der Sommer war ein Totalausfall.

Ankunft in Rorschach HungerAm 21. August 1817 traf die erste Getreidelieferung aus Schwaben in Rorschach ein. (Quelle: Historisches u. Völkerkundemuseum St. Gallen)

Als die ersten voll beladenen Kornwagen in Stuttgart anlangten, feierte die Bevölkerung ein fröhliches Fest. Es sollte im nächsten Jahr und für immer wiederholt werden: „das Landwirtschaftliche Fest zu Kannstadt“ liess Wilhelm der I., König von Württemberg zu einer Art Pflichttermin werden – nicht ohne Absicht. Das Canstatter Volksfest auf dem 35 Hektar grossen Festgelände wurde zu einer der ersten Leistungsschauen und Agrarmessen. Sie sollte die Bauern animieren, sich die modernen Methoden des Ackerbaus und der Viehzucht anzuschauen und ebenfalls anzuwenden. Der Antrieb zum regelmässigen Vergleich und Ansporn sollte künftige Heimsuchungen mildern. Wilhelm der I. bestieg mitten in der sich anbahnenden Hungersnot den Thron besteigen. Denn am 30. Oktober 1816 starb sein Vater König Friedrich überraschend nach kurzer Krankheit. Der unerfahrene Monarch spürte Unruhe im Volk und ergriff bereits am 8. November 1816 drastische Mittel, die „zur Beruhigung unserer Untertanen und zur Sicherstellung ihrer Bedürfnisse dienen“ sollten. Die wichtigsten Punkte waren: Ein stark überhöhter Ausfuhrzoll auf alle Lebensmittel, Aufhebung des Einfuhrzolls und Aufhebung sämtlicher Brücken- und Wegzölle. Am Südufer des Bodensees waren solche Massnahmen weitere Steine in der Mauer, die die Ostschweiz in ihrem Elend einschloss. Der Alpenraum wurde vom Klimawandel gebeutelt, aber innerhalb des Alpenraums war die Ostschweiz am schlimmsten dran. Von Solidarität der umliegenden Regionen keine Spur. Jeder schaute für sich – kein unbekanntes Phänomen.

Erinnerung freundschaftl Uebereinkunft crop"Erinnerung an die freundschaftliche Übereinkunft zur Beförderung des allgemeinen Hungers im Jahr 1817."

In den nächsten Jahrzehnten entstanden immer mehr Erntedankfeste, Messen und nationale Ausstellungen und schliesslich Weltausstellungen. Immer steckte dahinter eine Lehre der Hungersnot: Der Vergleich mit anderen sollten erst Bauern, dann Handwerkern, schliesslich Regionen und Staaten die Möglichkeit zum Vergleich geben, Überschätzung und Unterschätzung zu verhindern und die Proportionen zurecht rücken. Nach Meinung Wilhelm I. hiess dies, künftig auf Notzeiten besser vorbereitet zu sein, den Bauern aufzuklären und gleichzeitig sein Standesbewusstsein zu stärken.

Diversifizierung der Landwirtschaft
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte die Landwirtschaft dank neuen Anbaumethoden einen starken Aufschwung. Diese Methoden waren fast alle in Versuchsanstalten entwickelt worden. Gleichzeitig entstanden auch in der Schweiz zahlreiche kantonale und private Initiativen mit Versuchsflächen, auf denen die Besitzer mehr oder weniger wissenschaftlich Böden untersuchten und Düngeversuche starteten. Das Thema Landwirtschaft wurde in der Schweiz bereits 1817 von mehreren Zeitschriften ins Zentrum gerückt. Mehrere Artikelserien berichteten über die Reorganisation des Ackerbaus, der Viehzucht bis hin zur Kultivierung neuer Pflanzen. Während der Hungersnot gaben Städte wie St. Gallen Gemeindeland zur Bepflanzung frei, und kleinere Landgemeinden teilten die Allmenden auf. Doch das gelang nicht immer. „Der Bürger- und Bauernfreund“ ärgert sich, „dass vielerorts das Gemeinschaftsland von einem Grossbauern genutzt wird, der dort beinahe umsonst sein Vieh grasen lässt, anstatt es den Mitbrüdern zu geben, damit sie die Not erleichtern können“. Die Zeitschrift plädiert aber auch für die Verbannung des Viehs in Ställe, für Stallfütterung und Düngernutzung für die Gärten. Mit weniger grasendem Vieh bei gleichzeitiger Nutzung des Düngers könnte der Ackerbau vergrössert werden. Einen weiteren Schwerpunkt bildete in den landwirtschaftlichen Medien der Kartoffelanbau. Er soll massiv ausgebaut werden. Das „St. Gallische Kantonsblatt“ erteilte den guten Rat „diese äusserst wohltätige Frucht in noch viel grösseren Mengen als bisher zu pflanzen“.

Wie die Menschen litten auch die Nutztiere während der Hungersnot an vielen Krankheiten. Um die Tiergesundheit war es schon vorher nicht gut bestellt, weil auch bei der Tierhaltung die nötigen Kenntnisse fehlten. Verbreitet war die Maul- und Klauenseuche. Es gab aber auch Pferdemilzbrand, Tollwut, Lungenkrankheiten und viele ansteckende Infektionen. Als Reaktion auf die Hungersnot bauten die Kantone sukzessive Veterinärsysteme auf. Die Behörden führten Viehkontrollen ein und isolierten Bestände mit kranken Tieren. Zudem setzte sich langsam ein systematisches Vorgehen bei der Sorten- und Rassenzucht durch. Die ganzen Versuche und Forschungen verwissenschaftlichten die Landwirtschaft zunehmend. 1900 definierte ein Bundesbeschluss Sinn, Zweck und Ziel der Arbeit auf landwirtschaftlichen Versuchanstalten. Nach dem zweiten Weltkrieg und dem starken Bevölkerungswachstum nahm der landwirtschaftliche Forschungsbedarf noch zu, und ab 1994 gesellte sich der biologische Landbau dazu. Heute sind drei Einheiten unter dem Namen Agroscope zusammengefasst: Liebefeld-Posieux, Reckenholz-Tänikon und Changin-Wädenswil.

Landreform und -verteilung
Doch zurück ins 19. Jahrhundert: Eine Herkulesaufgabe, deren Lösung aber die Hungersnot dringlich machte, war die Landreform. Durch Erbteilungen wurden viele Flächen so zerstückelt, dass sie ein Bauer nicht mehr rentabel bewirtschaften konnte. Die systematische Güterzusammenlegung im Rahmen der Agrarmodernisierung erfolgte erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig wurde mit Entwässerungen und Kanalbauten neues landwirtschaftliches Land gewonnen. Zudem unterstützte der Bund zusätzliche Massnahmen zur Verbesserung der Bodenqualität. Eine weitere wichtige Lehre aus der Hungersnot war die Ausweitung der Böden für den Kartoffel- und Gemüseanbau auch in städtischen Regionen.

Um allfällige Ernteüberschüsse besser lagern zu können und die Preise einigermassen stabil zu halten, wurden Lagerhäuser gebaut. Viele Kantone, aber auch grössere Städte wie St. Gallen besassen Kornmagazine. Die Kornschütte in Trogen ging auf Eigeninitiative zurück, sonst aber fehlten in Appenzell grössere Lagermöglichkeiten. Vor 200 Jahren waren die Möglichkeiten eines antizyklischen Verhaltens für die Regierung mit den Mitteln der Kornmagazine beschränkt. Einerseits konnte auch dort die Nahrung verderben, andererseits waren bei Nahrungsmittelknappheit die Importmöglichkeiten beschränkt, denn die Ernte war meist überall schlecht. Mangelnde Innovation in der Landwirtschaft verschärfte bereits die Hungernöte von 1770 und 1771 sowie 1816 und 1817. Doch allmählich entstand die agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft. Fortan wurde Landwirtschaft mit Prinzipien der Industrie reformiert. Aus sich selbst ernährenden Bauern, die ihre geringen Überschüsse auf den Markt verkauften, wurde ein Sektor als Teil der Volkswirtschaft. Bauern wurden langsam zu Unternehmern, die ihre Arbeit organisierten und dabei Technologien anwendeten.

Neue Verletzlichkeit?
Die Ziele haben sich im Laufe der zwei Jahrhunderte verändert. Die Erinnerung an die Hungersnot ist verblasst. Einen so schnellen Klimawandel überstehen zu können, steht nicht mehr im Fokus, obwohl dies jederzeit wieder notwendig werden könnte. Die Industrialisierung und die Urbanisierung zwingt auch heute die Bauern, immer mehr Menschen mit einer Hektar Land ernähren zu können – und zwar zu einem erschwinglichen Preis. Im Moment ist das Gegenteil zum Problem geworden. Landwirtschaftliche Güter sind so billig geworden, dass die Bauern in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraden. Zudem entsteht ein Paradigmenwechsel. Die Bauern sollen nicht mehr nur den Ertrag im Blick haben. Sie müssen auch ihre Verantwortung für die Artenvielfalt wahrnehmen, denn sie haushalten mit grossen Landflächen. Es bleibt aber eine Kernaufgabe des Staates, die Grundversorgung seiner Bewohner mit Nahrungsmittel sicherzustellen.
Dass die eigene Ernährung eine grosse Bedeutung hat, beweist in der Schweiz Agroscope und seine landwirtschaftliche Forschung. In den Nachbarländern gibt es ähnliche Institutionen. Beispielsweise die Universität Hohenheim bei Stuttgart. Neu als Faktor im Spiel ist wieder das Klima: 1816 vom Tambora gemacht, heute vom Menschen gemacht. Wissenschaftler anerkennen inzwischen die Erderwärmung. Wie stark sie ausfallen wird, ist nicht zuletzt eine politische Entscheidung. Wenn es gut läuft, wird sie im Bereich von zwei Grad Celsius ausfallen, wahrscheinlich aber höher. Dabei spielen die regionalen Auswirkungen eine Rolle. Zu den am heftigsten Veränderungen unterworfenen Regionen gehören die Alpen. Dies ist eine Bedrohung für die Alpwirtschaft, denn die Szenarien gehen nicht nur von mehr und heftigeren Starkregen aus, sondern auch von einem Abschmelzen des Permafrostes. Das macht den Boden unstabil. Wenn die Gletscher abgeschmolzen sind, tritt die Wasserversorgung in ein neues Zeitalter. Es wird nicht mehr so selbstverständlich sein, jederzeit und in ausreichender Menge Wasser zur Verfügung zu haben. Die Zucht von Pflanzen und Tieren alleine zur Ertragssteigerung wird hinterfragt. Sind diese hoch gezüchteten Pflanzen und Tiere dem Klimawandel gewachsen? Oder sollten nicht wieder alte, dem Klima besser angepasste Rassen und Sorten eingesetzt werden? Ist unsere Verletzlichkeit bezüglich einer Hungersnot wieder gestiegen? Fest steht: Die Voraussetzungen sind heute besser. Die Alpenregion ist global vernetzt. Wenn die Preise für landwirtschaftliche Güter steigen, dann weltweit.

Wieder mehr Vielfalt
Vor allem die Fleischproduktion, aber auch die intensive Felderwirtschaft mit Düngemitteln tragen zur Erderwärmung bei und zwar in einer deutlichen zweistelligen Prozentzahl. Gleichzeitig aber könnte die Landwirtschaft einen wichtigen Beitrag zur Reduzierung der Treibhausgase beitragen. Doch die Landwirtschaft muss sich dem Klimawandel anpassen, damit die Nahrungsmittelsicherheit nicht bedroht wird. So wird beispielsweise das Zerstörungspotential von Schädlingen zunehmen, denn milde Winter können deren Populationsentwicklung weniger unterdrücken als kalte Monate mit Minusgraden. Die zu erwartenden Hitzeperioden, starke, lang anhaltende Regenfälle und Dürren könnten sich zudem negativ auf die Landwirtschaft auswirken.

Direktzahlungen und Subventionen an die Landwirtschaft richten sich in der Regel nach der Masse, nicht der Klasse. Das könnte sich dereinst bei extremen Wetterereignissen rächen. Es braucht in allen Alpenländern eine klare Klimastrategie für die Landwirtschaft. Einerseits soll mit Massnahmen in der Landwirtschaft ein Beitrag gegen die weitere Erderwärmung geleistet werden. Anderseits soll aber der Schaden so gering wie möglich sein, in dem die Landwirtschaft ihre Robustheit verstärkt. Dies ist ein konkreter Hinweis auf geeignete Pflanzensorten und Tierrassen. Dabei bestehen auch Synergien zwischen der Anpassung an den Klimawandel und der Minderung des Treibhausgasausstosses. Die wichtigste Basis ist ein starker und gesunder Boden mit einer lebendigen Struktur. Dies wird mit schonender und kluger Landwirtschaft, mit Fruchtwechsel und geeigneten Tieren erreicht. Die Sorten- und Artenvielfalt ist enorm hoch. Es gibt beispielsweise über 130'000 Reissorten, von denen das FAO-Institut IRRI in Los Baños auf den Philippinen je zwei Kilogramm Körner tief unter dem Boden, erdbebensicher und bei Minus 20 Grad einlagert. In Mexiko beim entsprechenden Institut für Weizen und Mais, CYMMIT, lagern je ebenfalls zwei Kilogramm Samen von Tausenden von Sorten und beim CIP in der peruanischen Hauptstadt Lima dieselbe Menge Kartoffeln. Denn auch von Erdäpfeln gibt es Tausende Sorten. Hinzu kommen die nationalen Forschungsanstalten. Sie alle haben jahrzehntelang vor allem an der Ertragssteigerung geforscht. Der Weg zur Anpassung an den Klimawandel führt deshalb wahrscheinlich nicht vorwärts in eine Landwirtschaft mit noch komplexerer Technologie, sondern zurück zu alten Sorten und Rassen, die sich in Zeiten mit stark schwankendem Klima schon einmal bewährt haben. Das Problem ist: alte Sorten und Rassen sind zwar bei Wetterextremen oft stabiler und ertragreicher, in normalen Jahren fällt die Ernste aber oft geringer aus, wie bei Hochleistungssorten. Ausserdem müssen sie vermarktet werden. Die Konsumentinnen und Konsumenten wurden an Riesenerdbeeren, wunderbare Äpfel, klebrigen, eiweissreichen Weizen, der schön aufgeht, und an zartes Rindfleisch gewohnt. Dass eine Zweinutzungskuh, die Milch gibt und am Ende ihres Lebens geschlachtet wird, ein etwas zäheres Fleisch hat – das wollen viele nicht akzeptieren, obwohl sie eine naturnahe Landwirtschaft fordern. Es braucht viel Aufklärung, damit die Menschen wieder verstehen, das etwas weniger an Quantität und Schönheit trotzdem mehr sein kann.

Buchtipp:
Arnold, Martin. Hunger in der Ostschweiz: menschliches Versagen oder Gottesprüfung? VGS Verlagsgenossenschaft St. Gallen, 2018, 217 Seiten; 17,5 x 24 cm; Hardcover.

Buchcover Hunger in der Ostschweiz01