Wölfe werden am Wolfsforschungszentrum im niederösterreichischen Ernstbrunn zum Gegenstand experimenteller Forschung. Die Ergebnisse zeigen die grosse Lernfähigkeit und Kooperationsbereitschaft dieser Raubtiere. Und sie lassen darauf schliessen, dass Mensch und Wolf sich in Nachbarschaft gut vertragen können.

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Kurt Kotrschal vom Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn, Niederösterreich: Der Wolf als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. (Bild: Andi Butz)

Mit einem Affenzahn schnellt Aragorn auf die Plastikdose zu, versucht, seine Nasenspitze darunter zu bohren, scheitert und rutscht hinter der Dose her, in die Ecke des fensterlosen, gekachelten Raumes, er versucht es nochmals und nochmals, bis es ihm schliesslich gelingt, sie umzudrehen. Hastig schnappt er zu und verschlingt den unter der Dose versteckten Brocken Trockenfutter. Das Spiel beginnt von vorn. Trainerin Cindy Vogt zeigt das Futter, steckt es unter dieselbe Dose, platziert eine zweite, die anders ausschaut, aber leer bleibt, daneben und stellt sich mit dem Rücken zu Aragorn. Der prächtige, neunjährige Timberwolf mit dunklem Fell wird wieder und wieder über den nackten Betonboden zischen, mehr rutschend als rennend, dabei die Beobachter in einer Ecke des Raumes kaum beachtend, höchstens, wenn dummerweise das Futterstück zu ihren Füssen zu liegen kommt. Es stört ihn nicht sonderlich. Beim Test geht es darum, etwas über die Merkfähigkeit von Aragorn herauszufinden. Schafft er fünfzig fehlerfreie Wiederholungen, wechselt die Trainerin die Dose, und eine neue Testreihe beginnt. Wölfe sind ziemlich gut in diesem Spiel, einem standardisierten Experiment, das auch mit andern Tierarten oder Menschen durchgeführt werden kann. Die Ergebnisse der Wölfe liegen recht nahe bei Kleinkindern und widerspiegeln in der Tierwelt Resultate, wie sie etwa mit Raben erzielt, von Tauben aber meilenweit verfehlt werden. Wölfe lernen etwas rascher als Hunde, unter der Voraussetzung, dass sie sich nicht fürchten. Über ein Wolfsleben betrachtet zeigt sich, ganz ähnlich wie etwa beim Menschen, eine Leistungsspitze im jungen Alter, die dann mit zunehmendem Alter etwas abfällt.

"Durch und durch Wolf."
Aragorn ist einer von 17 Timberwölfen, die am Wolfforschungszentrum in Ernstbrunn 40 Kilometer nördlich von Wien gehalten werden. Sie leben in einer herrlichen, halboffenen, von mächtigen Eichen beherrschten Waldlandschaft, die einst fürstliches Jagdrevier gewesen war, in verschiedenen Gehegen in kleinen, handverlesenen Gruppen. Zum Menschen stehen sie in einem Nahe-Distanz-Verhältnis, das es möglicht macht, experimentelle Forschung mit ihnen zu betreiben. Sie werden mit der Flasche aufgezogen und bleiben, bis sie fünf Monate alt sind, in ständigem Kontakt zum Menschen. Danach gehen sie zurück ins Rudel. Mensch und Wolf begegnen sich in etwa so, wie es Nachbarn idealerweise tun: mit Respekt und Wohlwollen. Und sie arbeiten zusammen, meistens zu wissenschaftlichen Zwecken. Das sei nur in diesem Rahmen überhaupt möglich, sagt Kurt Kotrschal. Der Biologe hat das Zentrum 2008 zusammen mit seinen Kolleginnen Friedrike Range und Zsofia Viranyi gegründet, um neue experimentelle Wege zu gehen in der Forschung am Wolf. Bislang waren die Wildtierbiologen weitgehend auf Beobachtungen in freier Natur angewiesen. Experimente, wie sie in Ernstbrunn gemacht werden, sind unmöglich. Doch sind diese Wölfe noch als Wildtiere zu betrachten? „Natürlich. Sie sind durch und durch Wölfe, und wir machen hier keinerlei Anstalten, sie zu zähmen oder mit ihnen zu leben. Wir gewöhnen uns aneinander, mehr nicht. Ansonsten bleibt sich jeder treu“. Für die Wölfe sei der Mensch ein Partner, aber niemals Teil eines Rudels oder gar ein Rivale. „Das könnte lebensgefährlich sein. Für den Wolf ist es ein Leichtes, einen Menschen zu töten.“ Dass er dies in Ennsbrunn nicht tut, liege nicht etwa daran, dass die Wölfe das Futter vom Menschen erhalten, sondern an der fein austarierten Beziehung, die zwar vom Menschen gestaltet, vom Wolf aber akzeptiert und damit geteilt werden müsse. So folgt das Zusammenspiel zwischen Mensch und Wolf strikten Regeln: Es darf keinerlei Zwang ausgeübt werden, die Wölfe bestimmen, was sie teilen wollen und was nicht, die Trainerinnen und Trainer wechseln sich in ihren Aufgaben ab.

So ähnlich könnte das Zusammenspiel auch vor 35‘000 Jahren in Predmosti in der heutigen Slowakei gelaufen sein, als Menschen und Wölfe gemeinsam Jagd auf Mammuts machten. An den Siedlungsplätzen der Jäger finden sich haufenweise Knochen, von Menschen, Wölfen und Hunden, die damals schon seit mehreren Jahrtausenden domestiziert waren. Aus genetischen Spuren in den erhaltenen Knorpelgeweberesten lässt sich die Ernährung rekonstruieren. Danach konsumierten Wölfe und Menschen ausschliesslich Mammutfleisch, die Hunde dagegen das Fleisch von Wildpferden und Rentieren. Auch wenn ein endgültiger Beweis nicht möglich ist, so drängt sich der Schluss auf, dass Menschen und Wölfe eine Jagdgemeinschaft zu gegenseitigem Nutzen bildeten. Möglicherweise wurden dabei Jungwölfe von Frauen gesäugt, um sie an den Menschen zu gewöhnen, während diese weiter in ihrem Rudel lebten. Ähnliches wird heute aus Afrika von Wildhunden berichtet. Die us-amerikanische Anthropologin Pat Shipman sieht in dieser Jagdgemeinschaft eine der entscheidenden Innovationen des Menschen, die ihm auch einen grossen Vorteil gegenüber dem Neandertaler verschaffte und zu dessen Aussterben beigetragen haben könnte. Homo sapiens sägte damit aber auch am eigenen Ast: Er rottete die Mammuts aus und musste sich nach neuen Nahrungsquellen umsehen. An diesem Raubbau an der Natur hat er bis heute nichts Wesentliches geändert.

Wir ähneln uns
„Wölfe und Menschen sind sich in vielem ähnlich“, sagt Kurt Kotrschal. „Sie sind innerhalb ihres Rudels sehr sozial, ziehen ihre Jungen gemeinsam gross, sie bilden effiziente Jagdgemeinschaften. Und sie sind ausgesprochen aggressiv im Kampf mit anderen Rudeln um die Vorherrschaft. Damit regeln sie übrigens auch ihre Populationsdichte selbst.“ Das dominante Alphamännchen, das wie ein Diktator über sein Rudel gebiete, sei eine Mär. „Die Dominanz beschränkt sich weitgehend auf die Fortpflanzung, und auch die ist nicht in Stein gemeisselt. Der ganze Rest ist Teamarbeit in einer ziemlich egalitären Gemeinschaft“. Wölfe sind dazu eher besser in der Lage als Hunde. Das zeigen Ergebnisse aus den Experimenten, die parallel mit Wölfen und Hunden durchgeführt werden. Am Wolfforschungszentrum leben auch 17 Hunde, die gleich aufgezogen werden und in Gehegen leben wie die Wölfe. In direkten Kontakt kommen sie dabei nicht. Wenn die Hunde in der Gruppe zum Gebell anheben, bleibt die Antwort der Wölfe in Form des vielstimmigen Wolfsheulen nicht aus. Nach einem exakten Plan durchgeführte Leinenversuche mit je einem Kommando für Sitz und Platz, begleitet von einer Belohnung, führten etwa zum überraschenden Ergebnis, dass Wölfe tendenziell eher besser abschneiden als Hunde – solange sie nicht dazu gezwungen werden. Sie setzen und legen sich hin, und sie zerren weniger an der Leine. Dafür seien sie weit weniger bereit, still zu halten und sitzen zu bleiben, bis es weitergeht. „Für Wölfe sind wir gewissermassen Spielkameraden. Wenn es langweilig wird, wenden sie sich interessanteren Dingen zu. Und das kann sehr schnell der Fall sein.“

Das Bild vom Wolf gehört revidiert. Sie sind weder die blutrünstigen Raubtiere, die sich im Dutzend an Schafen vergreifen, noch eignen sie sich dazu, als Projektionsfläche für jene zu dienen, die in der Natur partout das bessere Vorbild sehen wollen.  Die Wahrheit, so der derzeitige Stand des Wissens, liegt auch nicht in der Mitte. Beide Ansichten sind grundsätzlich falsch, weil sie menschliche Verhaltensweisen auf den Wolf übertragen. Eine nüchterne Betrachtung täte not: Wölfe sind Raubtiere mit der Kraft, Menschen zu töten. Wölfe haben eine natürliche Scheu vor dem Menschen, der sie interessiert, den sie aber auch fürchten. In aller Regel machen sie einen weiten Bogen um ihn. In ihrem Beuteschema spielt er praktisch keine Rolle. Harmlos sind Wölfe deshalb aber nicht. In der Überlieferung ist es immer wieder zu Attacken auf Kinder, die etwa zum Tierhüten abgestellt wurden, und Frauen gekommen. Das heutige Risiko ist allerdings verschwindend gering - ganz im Gegensatz zu Ländern der dritten Welt, von denen selbstverständlich verlangt wird, für einen umfassenden Artenschutz zu sorgen, auch wenn die Zahl der menschlichen Opfer etwa von Elefanten oder Tigern in die Hunderte geht.

Platz genug für den Wolf
Wölfe sorgen für gesunde Bestände ihrer Beutetiere, dezimieren diese zahlenmässig aber nicht. „In ganz Europa sind die Wilddichten heute so gross, dass mehr als genug Beute zur Verfügung steht“, sagt Kotschral. Der Wolf braucht nicht mehr. Wölfe regulieren ihre Bestandesdichte selbst. Wird es zu eng, scheuen sie auch davor nicht zurück, ihre Artgenossen oder gar ganze Rudel zu töten. Greift der Mensch ein, dann tut er dies vorzugweise in ähnlicher Weise. Denn: Einzelne Abschüsse werden im kommenden Jahr durch mehr Nachwuchs kompensiert. „Bei zu hoher Dichte empfiehlt es sich, ganze Rudel zu schiessen“, meint Kotschral. Davon sei man aber überall in Europa noch weit entfernt. Wölfe verhielten sich auf einer Schafweide wie der Fuchs im Hühnerstall. „Sie töten alles, was ihnen zwischen die Zähne kommt. Herdeschutzmassnahmen sind ein wirksames Mittel dagegen. Ganz ausschliessen lassen sich solche Attacken vor allem von Jungwölfen, die auf der Suche nach Anschluss oft weite Strecken zurücklegen, aber nicht.“ Es brauche deshalb finanzielle Entschädigungen für diese Risse.  
Eines ist sich Kurt Kotrschal heute gewiss. „Wir könnten mit unseren Wölfen wie unsere Vorfahren jederzeit auf die Jagd gehen. Wir wären ein perfektes Team.“ Dazu wird es nicht kommen. Aber dem Wolf gebühre wieder Platz, dort, wo es diesen Platz gebe. „Und davon gibt es in den waldreichen Ländern der Alpen mehr als genug“.