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Die Pürin ließ sich einst nicht von überkommenen Vorstellungen abhalten: Daher bewirtschaftet sie nun eigenverantwortlich einen Bauernhof in einem Schweizer Bergsturzgebiet. Ihr Mann ist eben mit ihr, der Bäuerin, verheiratet. Und nicht umgekehrt – wie es das „Gesetz“ der Männer verlangt. Eine Gehilfin kommt auf den Hof der Pürin und lernt von ihr viel über das Arbeiten, aber auch über das Sein an und für sich. Noëmi Lerch hat 2015 in ihrem Buch „Die Pürin“ beide Akteurinnen in kargen Sätzen, jedoch mit durchaus poetischen Bildern, miteinander, aber auch mit der sie umgebenden Natur äußerst dicht verwoben. Und da gibt es noch eine wichtige Großmutter.

Eine Pürin mit Mann. „Als die Pürin Pürin werden wollte, sagte man ihr, das ist gegen das Gesetz. Die Pürin gibt es nur als die Frau vom Bauern. Und eine Pürin ohne Mann, das sei schon kompliziert genug.“ Die Pürin, für Nichtschweizer die Bäuerin, lässt sich jedoch von diesem „Gesetz“ nicht abschrecken und setzt sich durch. Die von Noëmi Lerch erzählte, in der Gegenwart angesiedelte Geschichte „Die Pürin“ hat so durchaus emanzipatorische Ansätze: Der Bauernhof wird von der Pürin allein mit Hilfe einer im Herbst eintreffenden Gehilfin bewirtschaftet. Denn der pensionierte Mann der Pürin, „war froh, dass er nicht Bauer werden musste“ –  er geht lieber zum Schifahren.

„Was ich nicht vergessen will.“ Die Gehilfin fungiert als Ich-Erzählerin und nennt einen der Gründe, warum Noëmi Lerch wohl das miteinander Arbeiten und Leben der beiden Frauen aufgeschrieben hat: „Was schreibst du da, fragt die Pürin, die ganze Zeit? Was ich nicht vergessen will.“  Und meint damit wohl, was wir alle nicht vergessen sollten, etwa die Endlichkeit. Tatsächlich breitet sich beim Lesen der achtzig Seiten das nicht immer angenehme Gefühl aus, dass die beschriebene Lebens- und Arbeitsweise bedroht ist,  ihre Zeit abläuft, Mensch, Tier und Stall bald  für immer von Geröllhalden, die über dem Dorf lauern, bedeckt werden. So werden Fragen der Abwanderung, des Aufgebens direkt der Gehilfin gestellt: „Bist du immer noch da, sagt einer der anderen zu mir, und pass nur auf, am Ende bleibst du für immer.“

Was sie nicht braucht. Der Leser nimmt teil an einem genügsamen, zufriedenen, 2016 daher Ausnahme-Dasein: „Die Pürin ist sich sicher: Was sie nicht hat, das braucht sie nicht.“ Hier lässt die Autorin eines der ganz großen Themen der Moderne anklingen: Die Abschottung vom wirtschaftlichen Getriebe: Das Leben von Pürin und Gehilfin lässt durchaus an gegenwärtige Einsiedlerinnen denken. Denn Rückzug statt Rebellion ist ein durchaus aktuelles Phänomen: Menschen ziehen sich auch heute an möglichst abgeschiedenen (Un-)Orten zurück, um Freiheit durch soziale Isolation zu gewinnen (Stichwort „alpine Aussteiger“).  Wobei Noëmi Lerchs Reservat keineswegs ein Heidi-Land ist:  Es gibt Dunkles, Verstörendes: Vor allem den Tod. Aber auch böse Geister, die in der Nacht einen Hirschschädel auf den Zaun stecken, der die Villa schützen soll.

Die Großmutter liebte die Berge nie. Denn neben dem Hof der Pürin gibt es als weiteren Handlungsort die Villa mit dem klingenden Namen Laudinella, die der Großvater der Gehilfin für deren Großmutter „auf der Sonnenterrasse über dem Tal“ gebaut hat – und in der die Assistentin der Pürin jetzt nicht ganz alleine lebt: Ihre bereits verstorbene Großmutter taucht nämlich immer wieder auf – und verschwindet: „Die Großmutter ist vor Jahren gestorben, aber wenn ich morgens nicht aus dem Bett komme, macht sie Kaffee für mich.“

Leben ist Einsamkeit. Lerch konfrontiert den Leser mit fragmentarischen Bildern, die das Leben inmitten der Berge und das Arbeiten am Bauernhof still und unprätentiös schildern – fern jeder Heimatromanidylle. Den einzelnen Textsequenzen gemeinsam ist ein melancholisch-nachdenklicher Grundton, der auch explizit zum Ausdruck gebracht wird,  etwa wenn die Pürin sagt, „ein großer Dichter habe einmal gesagt, Leben, das hieße einsam sein. Ich nicke und denke, dass man nicht alles glauben sollte, was große Dichter sagen“.

Die Stiefel wachsen. Der Traktor denkt. Dafür wird Unbeseeltes belebt: Das alte Auto der Pürin kennt die Straßen auswendig. „Zwischen unsere Füße“ fällt eine Frage unbeantwortet hinunter. Der Traktor sieht aus, als würde er nachdenken, jedenfalls hat er Erlebnisse mit den Menschen abgespeichert. Und aus dem Boden wachsen Stiefel. Der Stall mutiert zum Tempel, in dem sich die Kälber verneigen, bevor sie zum Schlachter abtransportiert werden.

„Die Großmutter sagt, meine Liebe, jede Geschichte braucht einen Anfang und ein Ende.“ Die Kapitel der Erzählung sind die vier Jahreszeiten, die das Arbeiten und Leben am Hof der Pürin bestimmen. Hier unterliegt sie durchaus dem Gesetz, so ist der Winter eine Zeit, in der man aufpassen muss, „dass die Kälte einen nicht auffrisst“. Der Leser lebt so ein ganzes Jahr mit den drei Frauen – die Großmutter mitgezählt – am Hof und in der Villa. Ihr Dasein steht im Einklang mit der Natur und den Aufgaben, die diese ihnen stellt. Gleichzeitig steht der Jahreslauf für Werden, Leben und Vergehen: „Die Pürin erklärt mir den Lauf der Zeit: Das eine macht man am Morgen, das andere am Abend, und dann ist der Sommer schon vorbei.“ Der Ablauf der Zeit verlangt die Endlichkeit und tickt durch die ganze Erzählung:   „Wie weiß man, ob man am Sterben ist, frage ich die Großmutter. Man merkt es an den Füssen, sagt sie.“

Die Stille aushalten. Es darf in der Geschichte Selbsterlebtes der Autorin vermutet werden, denn sie arbeitet saisonweise auf einem Bergbauernhof im Albulatal. So steht auch der Aufbruch der Gehilfin am Schluss der Erzählung: Sie verlässt die Villa ihrer Großmutter und damit (vorerst) auch die Pürin. Letzter Gedanke der Gehilfin: „Ich atme auf, als die Stille nachlässt. Bald, da werden wir vergessen sein.“ Achtzig Seiten mit ungezählten Wörtern sind durchlesen.  Dazwischen aber, vor allem jenseits der einzelnen Sequenzen, Stille, die für manchen Leser wohltuend sich ausbreitet, Zeit für Reflexionen lässt, daher notwendig ist – andere Leser jedoch nervös machen, ja beunruhigen wird. Schon deshalb ist Noëmi Lerchs „Die Pürin“ ein ungeheuer wichtiges Buch. Nehmen Sie sich Zeit dafür!

Das Buch
Noëmi Lerch
Die Pürin
88 Seiten, gebunden
verlag die brotsuppe | www.diebrotsuppe.ch
ISBN 978-3-905689-73-0
 Euro 19 | CHF 19

Die Autorin
Noëmi Lerch, 1987 geboren in Baden, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der Universität Lausanne. Sie war Redakteurin beim Schweizer Magazin für Reisekultur „Transhelvetica“. Seit 2014 arbeitet sie zusammen mit der Cellistin Sara Käser im Duo Käser & Lerch. 2015 erschien ihr erstes Buch „Die Pürin“ im verlag die brotsuppe. Noëmi Lerch lebt in Tiefencastel. 

Der Rezensent:

Helmuth Oehler, www.helmuth-oehler.at

 

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