Dass bei grossen Hochwasserschutzprojekten verschiedene Interessen aufeinander treffen, zeigt anschaulich das Projekt Rhesi. Rhesi soll am Alpenrhein Hochwasserschutz, Naturschutz und die Bedürfnisse der Trinkwasserversorgung unter einen Hut bringen.

Wer das St. Galler Rheintal als Wanderer vom Höhenweg aus erblickt, sieht auf ein graublaues Band, das gerade von Nord nach Süd verläuft. Verglichen mit dem mäandernden Tagliamento, dem König der Alpenflüsse im Friaul, ist das wie Tag und Nacht. Der Alpenrhein präsentiert sich als trostlose Wasserautobahn. Doch die Wasserautobahn soll einige Nischen erhalten und der Natur mehr Platz geben. Die Überarbeitung des Hochwasserschutzes und die geplante Sanierung der Dämme bieten die Chance dazu. Denn unter dem Titel Rhesi (Rhein. Erholung und Sicherheit) ist als zwischenstaatliches Projekt ein Jahrhundertwerk geplant, dessen Bauzeit 25 Jahre dauern soll. Die Basis ist das Entwicklungskonzept Alpenrhein. Es wurde 2005 von der gemeinsamen Regierungskommission der beteiligten Kantone, Vorarlbergs und Liechtenstein vorgelegt. In diesem Entwicklungskonzept wurde deutlich, dass der Hochwasserschutz am Rhein verbessert werden muss. Und zwar betrifft dies nicht die Standfestigkeit der Dämme, sondern die Wassermenge pro Sekunde, die an der engsten Stelle durchfliessen kann. Der Rhein hat sich am Oberlauf zudem tiefer eingegraben, am Unterlauf verflacht die Flusssohle.
Nach dem Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein bei Reichenau strömt der Rhein, dessen Einzugsgebiet etwa die Fläche des Kantons Bern umfasst, auf insgesamt 90 Kilometer in einem schmalen, kanalisierten Flussbett: Sein Wasser soll so schnell wie möglich durchs Rheintal fliessen. Es wird am Unterlauf gesäumt von zwei mächtigen, mit Steinen ausgekleideten Wuhren, die ihn bei mittlerem Hochwasser daran hindern, über die Ufer zu treten. Das kommt nur alle paar Jahre vor. Dann wird das Rheinvorland überflutet, und der Fluss hat nun, solange das Hochwasser anhält, den nötigen Raum, um sich auszutoben.

 Erst die über sieben Meter hohen Hochwasserdämme in grossem Respektabstand werden ihn daran hindern, sich ins dicht besiedelte Rheintal zu ergiessen. Die Durchflussmenge beträgt im Moment in untern Teil kurz vor dem Bodensee 3100 Kubikmeter und soll nun 4300 Kubikmeter erhöht werden. Denn neue Berechnungen zeigen, dass es nicht mehr so sicher ist, dass 3100 Kubikmeter genügen

Rheinregulierung als Jahrhundertwerk
Kurt Fischer, Bürgermeister der österreichischen Marktgemeinde Lustenau, erschrak kurz nach seinem Amtsantritt 2010, als ihm im Rahmen einer Überprüfung der Katastrophenschutzmassnahmen das Ausmass eines Dammbruches bewusst wurde: „Wir hätten keine Chance, die Menschen aus den flussnahen Quartieren zu evakuieren. Uns bliebe nur, ihnen zu raten, sich auf die Dächer zurückzuziehen. Ich bin mir sicher: Es würde Tote geben“. Katastrophal wären auch die zu erwartenden Sachschäden von mehreren Milliarden Franken. Die Dämme halten nur einem so genannten 100-Jahr-Ereignis stand, wenn mit Abflussmengen von 3100 Kubikmetern pro Sekunde – das entspricht 3,1 Millionen Liter Wasser – zu rechnen ist. Doch es kann noch viel schlimmer kommen. Bei einem etwa alle 300 Jahre zu erwartenden Hochwasser ist mit den erwähnten 4300 Kubikmeter pro Sekunde zu rechnen. Lustenau, Diepoldsau, Widnau, Au, St. Margrethen oder Rheineck wären vollkommen überschwemmt. Wie nach dem Jahr ohne Sommer mitten während der Hungersnot 1817, als der Rhein zeitweise von Bad Ragaz bis zur Rheinmündung einen See bildeten und der Fluss selber drohte, bei Sargans nach Westen zu fliessen und in den Walensee zu münden.
Die Rheinregulierung ist das Ergebnis eines Jahrhundertprojekts, das in seinen Anfängen bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zurückreicht. Damals erkannte man beidseits des Rheins, dass der regelmässig über die Ufer tretende, seinen Lauf immer wieder ändernde Fluss nur mit gemeinsamen Anstrengungen zu zähmen war. Doch es brauchte eine ganze Reihe weiterer, katastrophaler Überschwemmungen, bis sich 1892 die Schweiz und Österreich zusammenrauften und mit der internationalen Rheinregulierung die Basis legten für ein Jahrhundertwerk. Daniel Dietsche, Rheinbauleiter Schweiz, ist beeindruckt von der Arbeit der damaligen Ingenieure und Baufachleute, die wasserbautechnische Pionierarbeit leisteten. Sie schufen ein Werk, das den Hochwasserschutz im Rheintal nahezu perfekt machte, so perfekt, dass der Alpenrhein nicht nur seinen Schrecken verloren hat, sondern auch den Bezug zur Bevölkerung. Über hundert Jahre hat der Rheindamm gute Dienste geleistet. Die Rheinregulierung brachte den Bauern im Tal auf den Vorlandflächen zwischen Wuhr und Hochwasserdamm auch rund 350 Hektar der besten Böden im Tal, Land, das sie für die Graswirtschaft nutzen dürfen. Bis zu vier Heuernten sind auf den mit Jauche oder Mist gedüngten Böden möglich. Im Untergrund des Flussbettes findet sich Trinkwasser, das beidseits in verschiedenen Gemeinden gefördert wird und rund 200‘000 Menschen versorgt.


Dank Renaturierung könnten mehr Stellen am Rhein aussehen wie die Mastriler Augen. Bild Anita Mazzetta.

Doch die Dammbreite wurde zu schmal bemessen, das Wasser läuft zu schnell durch und gräbt sich in den Untergrund. Das erhöht die Gefahr einer Grundwasserabsenkung im Rheintal. Weil man die Bevölkerung wegen der zu erwartenden immensen Schäden auch vor einem sehr seltenen Hochwasser schützen will, ist nun die Zeit des Handelns gekommen. Ein besserer Schutz soll mit der Verbreiterung des inneren Dammes auf mehr als das Doppelte erreicht werden. Das führt bei normalem Wasserstand zu mehr Flussdynamik, sodass das Flusswasser mäandern und Sandbänke bilden kann. Weil die Hochwassergefährdung in Bodenseenähe grösser ist, macht das Projekt Rhesi den Anfang. Es sind viele Hürden zu überwinden.

Platz für die Natur
2009 wurde die Internationale Rheinregulierung beauftragt, ein Sanierungsprojekt auszuarbeiten, das den Namen Rhesi erhielt. Die wichtigste Auflage: Rhesi muss in beiden Anrainerstaaten den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Die Schweiz geht dabei in Sachen Renaturierung noch etwas weiter und gibt damit den Rahmen vor. Das Gewässerschutzgesetz lautet: „Bei Eingriffen in das Gewässer muss dessen natürlicher Verlauf möglichst beibehalten oder wiederhergestellt werden“. Damit sei eines klar, sagt Hans-Peter Willi, Leiter der Abteilung Gefahrenprävention beim Bundesamt für Umwelt. Er ist als Vertreter der Eidgenossenschaft Mitglied der Gemeinsamen Rheinkommission. „Eine weitere Verschlechterung ist ausgeschlossen“. Die Frage ist: Wie viele ökologische Verbesserungen sind möglich?
Die Plattform „Lebendiger Alpenrhein“, dessen Geschäftsstelle beim WWF in St. Gallen der Gewässerbiologe Lukas Indermaur leitet, setzt sich bei der Rheinsanierung für ein ökologisches Vorgehen ein. Während der Rhein früher neben Angst und Schrecken auch viel Erholung und schöne Stunden in der Natur ermöglichte, ist er heute als Naherholungsgebiet nicht präsent. Der Damm bildet die langweilige Kulisse zwischen dem Wasser und dem Kulturland. „Die Renaturierung des Alpenrheins ist ein sehr langfristiges, generationenübergreifendes Projekt. Wenn man jetzt keinen Fluss schafft, der einen Lebensraum für möglichst viele Arten ist und die Lebensqualität der Bewohner erhöht, ist die Chance für hundert Jahre vertan", stellt Lukas Indermaur klar. Umfragen haben bestätigt: Die betroffene Bevölkerung wünscht sich einen naturnahen Alpenrhein mit vielen ökologischen Inseln und Auen.


Wird als Erholungsraum geschätzt: Renaturierung bei Rüthi. (Bild pd)

Obwohl das Vorland zwischen dem inneren und dem äusseren Damm öffentlicher Boden ist, stellen sich die Bauern, die es nutzten dürfen, präventiv als Opfer dar, um möglichst viel für sich herauszuholen, oder die Anzahl der ökologische Ausgleichsflächen wie Auen, die gemäss Gesetz alle rund fünf Flusskilometer vorhanden sein müssten, weiter zu verkleinern. Und auch die Gemeinde Widnau blockiert: Sie müsste auf ihre Wasserfassungen direkt am Rhein verzichten. Dies wäre allerdings zu ihrem eigenen Nutzen, denn das Wasser ist zu kurz im Untergrund, um es in die Trinkwasserleitungen zu leiten. Gegen die Aufhebung der sehr rheinnahen Trinkwasserfassungen wehrt sich die Widnauer Gemeindepräsidentin und Vertreterin der Trinkwasserversorgungen im mittleren und unteren Rheintal, Christa Köppel, trotzdem:„Es gibt Interessenskonflikte zwischen den Anliegen des Hochwasser- und Naturschutzes und jenen der Trinkwasserversorgung. Die Versorgung mit genügend einwandfreiem Trinkwasser hat höchste Priorität. In unserem Fall geht es um 80‘000 Menschen." Umweltverbände gehen davon aus, dass auch weiter weg vom Rhein Wasser gefasst werden kann. Ausserdem grenzt Widnau an die Hügel des Appenzeller Vorlandes mit seinen ergiebigen Wasserquellen.
In ihrem Vorschlag im November 2015 präsentiert die Internationale Rheinkommission im Rhesi-Projekt zwischen der Illmündung bei Oberriet und dem Bodensee auf 30 Kilometern fünf ökologische Trittsteine, deren Realisierung aber in Frage gestellt wird. Zwei dieser Trittsteine sind innerhalb der bestehenden Dämme, drei setzen eine Erweiterung des Aussendammes auf einigen wenigen Kilometern voraus. Im Bereich Widnau würde der Rhein sogar eine Strecke von elf Kilometern ohne ökologischen Mosaikstein durchfliessen. „Die elf Kilometer ohne ökologische Trittseine sind für uns unannehmbar“, erklärt Lukas Indermaur unmissverständlich.

Eigeninteresse vor Gemeinwohl
Nach dem Abschluss der Vernehmlassung wurde deutlich, dass auf der einen Seite Landwirte und die Trinkwasserversorger opponieren und auf der anderen Seite Umweltverbände, welche die bescheidenen ökologischen Ambitionen von Rhesi kritisieren. Markus Mähr, Projektleiter von Rhesi hat nun ein spezialisiertes Büro beauftragt, bis Ende 2016 Kompromissvorschläge vorzulegen. Gleichzeitig sucht er dort, wo es zu Dammerweiterungen kommt, das Gespräch mit den Landeigentümern. Sollte es zu einer Einigung kommen, arbeitet die Internationale Rheinregulierung ein Projekt aus, das einer Umweltschutzprüfung unterzogen werden kann. Hat sie die bestanden, stünde einem neuen Staatsvertrag nichts mehr im Wege. "Welchen Parlamenten er dann vorgelegt werden muss, ist noch nicht ganz klar", erklärt Markus Mähr. Fest steht, dass er zumindest in der Schweiz über die Kostenbeteiligung der Kantone bei einem Referendum an der Urne zu Fall gebracht werden könnte. Die Pläne sind vage. Mähr rechnet mit Baukosten von 600 Millionen Franken, die aber 30 Prozent nach oben und unten variieren könnten. Es ist wahrscheinlich, dass am neuen Rheingesicht nicht nur Politiker, sondern auch Juristen mit formen werden. Sollten bestimmte Massnahmen bis vor Bundesgericht angefochten werden, könnte es noch bis weit über 2020 hinausgehen, bis gebaut wird.
Dabei ist die neue Flussregulierung eine Chance für die Region. Widerstand von allen Seiten gab es auch bei der Sanierung des Escher- und Linthkanals. Aber es gelang, in die Sanierung zusätzlichen Massnahmen zu Gunsten der Natur im Bauprojekt unterzubringen. Integriert sind viele kleine Nischen zwischen im Kanton Glarus auf dem Abschnitt des Escherkanals, sowie zwischen dem Walensee und dem Zürichsee. Eine wichtige Massnahme befindet sich beim Benkener Ried, das nun auch mit dem ökologisch wertvollen Kaltbrunner Ried über Korridore vernetzt wird. Zudem wird das Benkener Ried um vier Hektaren vergrössert. Das neue 120 Millionen Franken teure neue Linthwerk ist seit 2013 abgeschlossen. Die Natur hat nicht überall jenen Platz bekommen, den sie verdient hätte. Doch dorthin, wo dem Fluss Platz gegeben wurde, wo Flächen überschwemmt wurden, sich Tümpel bildeten, Amphibien und Schmetterlinge zu siedeln begannen, fühlen sich die Menschen magisch hingezogen. Für die Umweltverbände ist die Entwicklung erfreulich. Einerseits ist sie ein Gewinn für die Natur, andererseits entsteht hier ein Vorbild für das noch grössere Projekt der Revitalisierung am Alpenrhein. Denn es ist sichtbar, wie wertvoll neuer Naturraum auch als Lebensraum für die Menschen ist.